Die Wahrheit des Blutes
geronnen. Wieder einmal erinnerte sie ihn an die Masken des No-Theaters.
»Sag es mir«, forderte er sie auf.
Sie biss sich auf die Lippen und warf ihm einen mörderischen Blick zu. Wie immer berührte ihn die Schönheit ihrer mongolischen Lidfalte bis ins Innerste – diese schräge Linie, die den Eindruck leichten Schielens hervorrief. Ihr Blick war ein Oxymoron. Er vereinigte Gegensätze. Er war wild und gleichzeitig sanft – von einer Zärtlichkeit, die durch die winzige Abweichung der Pupillen entstand, die alles linderte, die Augen beschwichtigte und das Herz streichelte …
»›Es gehört mir‹«, flüsterte Naoko.
»›Es gehört mir‹? Was denn?«
»Im Japanischen gibt es in solchen Sätzen keine genauer definierten Personalpronomen. Es könnte auch heißen: ›Sie gehören mir‹.«
»Sind die Buchstaben Kanji oder Hiragana?«
»Sowohl als auch.«
»Und die anderen sind nicht dabei?«
»Katakana? Nein. Der Satz enthält keine Fremdwörter.«
Die Japaner hatten ein drittes Alphabet entwickelt, um ausländisch klingende Silben und Namen schreiben zu können – was viel über die Mentalität des Landes aussagte.
»Und die Formulierung? Ist sie respektvoll, neutral oder brutal?«
»Brutal.«
»Gibt es irgendein Detail, das auf den Schreiber schließen ließe?«
»Nein.«
Passan platzte der Kragen.
»Was meint das Weib, verdammt?«
Naoko senkte die Augen. Ihre Wimpern flatterten.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie mit matter Stimme. »Vielleicht die Kimonos? Sie schienen besonders ausgefallen zu sein. Möglicherweise hat Sandrine sie gestohlen und …«
»Willst du mich verarschen?«
Naoko sah ihn an, ohne zu antworten. Ihre Augen zeigten keine Regung. Weder Furcht noch Wut. Passan dachte an die angebliche Gelassenheit der Asiaten. Und an seine eigene Dummheit. Zehn Jahre Zusammenleben, um immer noch bei Allgemeinplätzen zu landen. Er hatte wirklich nichts gelernt. Er würde wohl nie begreifen.
»›Es gehört mir‹«, wiederholte er, als kaue er auf dem Satz herum. »Was mag das nur bedeuten? Könnte es mit deiner Vergangenheit zu tun haben? Vielleicht mit deinen Eltern? Oder mit deinen früheren Freunden?«
»Sag mal, spinnst du?«
»Es muss einen Schlüssel geben. Denk nach. Im Augenblick sehe ich nur diese eine Möglichkeit.«
»Du bist doch übergeschnappt! Wir reden hier über jemanden, der unseren Hund umgebracht und Sandrine auf dem Gewissen hat. Jemanden, der irrsinnig genug ist, mitten in Paris ein traditionelles Kampfschwert zu benutzen. Tut mir leid, aber mit solchen Leuten kann ich nicht dienen.«
Fast widerwillig nickte Passan. Die Hypothese hielt einer genaueren Betrachtung nicht stand. Erneut gab er sich sanft, setzte sich an den Bettrand und wagte sogar, nach ihrer Hand zu greifen. Naoko überließ sie ihm widerstandslos. Ein schlechtes Zeichen …
»Ich gehe zurück nach Tokio«, erklärte sie plötzlich mit fester Stimme.
»Gute Idee. Dort kannst du dich ausruhen. Du …«
»Nein. Ich kehre für immer zurück. Ich bin es endgültig leid.«
Passan wurde klar, dass er im Unterbewusstsein diesen Satz schon lange befürchtet hatte.
»Und … die Kinder?«, stammelte er.
»Darüber müssen wir noch reden. Zunächst einmal kommen sie mit mir.«
Am liebsten hätte er wie ein echter Polizist geantwortet: »Du darfst im Augenblick das Land nicht verlassen, weil du Hauptzeugin in einer Mordsache bist.« Oder wie ein bornierter Ehemann: »Darüber werden sich unsere Anwälte unterhalten.« Stattdessen flüsterte er tröstend:
»Ruh dich erst einmal aus. Wir reden morgen weiter.«
»Wo schlaft ihr?«
Die Frage traf Passan unvorbereitet. Über dieses Problem hatte er noch nicht nachgedacht.
»Im Hotel«, gab er mechanisch zurück. »Mach dir keine Sorgen.«
Er musste sich konzentrieren, um ruhig zu antworten und eine gewisse Logik in seine Gedanken zu bringen. Auf seiner Seele lastete ein schwerer, düsterer Druck. Tokio. Die Kinder. Die ursprüngliche Angst …
Aber zunächst musste er diesen Fall lösen. Anschließend würde er sie daran hindern, fortzugehen.
Ein Albtraum nach dem anderen.
»Ich lasse dich jetzt in Ruhe«, flüsterte er. »Du musst ziemlich erledigt sein.«
Er stand auf und nahm ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken. Als er sich nach vorn beugte, hatte er den Eindruck, dass das Fallbeil einer Guillotine über seinem Nacken schwebte.
68
»Kommissar Passan?«
Eine Frau in einem langen hellgrünen Hemd und gleichfarbiger Hose
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