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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Gelackmeierte.
    Aber stand ihr Entschluss wirklich fest? Hatten die Vorfälle in der Villa zu ihrer Entscheidung geführt? Oder doch eher seine Vorwürfe gegen sie? Auf dem Weg zur Porte de Maillot sah er ununterbrochen ihr verschlossenes Gesicht vor sich, umrahmt von tintenschwarzem Haar. Er kannte diesen maskenhaften Ausdruck nur allzu gut. Schon zu Beginn ihrer Ehe hatte sie ihm so zu verstehen gegeben, dass sie ihm böse war. Und wenn er später am Abend versuchte, sich ihr zu nähern, wandte sie ihm den Rücken zu.
    Passan suchte nach Argumenten, die gegen ihren Entschluss sprachen. Naoko hatte hier ihren Beruf, ihre Geldanlagen und ihr Haus. Ihr ganzes Leben spielte sich in Frankreich ab. Außerdem hielt sie es für einen großen Vorteil, dass die Kinder zweisprachig aufwuchsen. Würde sie das alles wirklich wegwerfen und wieder ganz von vorn anfangen?
    Sicher setzte Naoko keine übertriebenen Hoffnungen in Passans krisengeschüttelte Heimat. Aber für Japan galt das Gleiche. Die Reisfelder von Honshu erschienen ihr ganz bestimmt nicht grüner als die Wiesen Frankreichs. Nach ihren letzten Erfahrungen allerdings – einem gehäuteten Affen im Kühlschrank, einem Vampir, der ihren Kindern Blut abgesaugt hatte, einem ausgeweideten Hund und einer in zwei Stücke zerteilten Freundin – würde ihr wohl jede Müllhalde ansprechender erscheinen als der Mont-Valérien.

69
    Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es Naoko, sich aufzurichten und ihre Beine aus dem Bett gleiten zu lassen. Jede Bewegung war eine Herausforderung. Mit angehaltenem Atem zog sie langsam die Infusionsnadel aus ihrem Arm. Schließlich ließ sie sich vorwärtsgleiten, bis ihre Füße den Boden erreichten, und richtete sich auf. Einige Sekunden lang verharrte sie so, bemüht, ihr Gleichgewicht zu halten.
    Es klappte. Sie konnte laufen. Passan hatte ihr saubere Kleidung mitgebracht. Sie suchte im Schrank, bis sie das Passende fand, zog ein Höschen an, streifte ein leichtes Kleid über und schlüpfte in ein Paar offene Sandalen. Die Lokalanästhesie wirkte noch: Sie spürte keinerlei Schmerz. Passan hatte nicht nur an ihren blassblauen Regenmantel, sondern auch an ihre Handtasche gedacht. Perfekt.
    Naoko spähte in den Flur hinaus. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie trat aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Mit der Handtasche über der Schulter schlich sie an den Wänden entlang, fand aber nach und nach wieder zu einer sicheren Gangart. Es war Samstagnachmittag, und sie sah aus wie eine x-beliebige Besucherin.
    Ein paar Stunden früher hatte man sie auf ihrer Trage endlos in der Notaufnahme warten lassen, weil kein Zimmer verfügbar war. Oder kein Arzt. Sie hatte nicht hingehört. Unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln verspürte sie kaum Schmerzen, hatte geduldig gewartet, ihre Umgebung beobachtet und alle Hinweisschilder gelesen.
    Der sechste Sinn der Ausländerin. Weil sie immer auf der Hut sein musste, hatte sie angesichts von Hinweisen einen Scharfsinn entwickelt, der weit über den jedes Franzosen hinausging. Wenn sie ein öffentliches Gebäude betrat – sei es Post, Rathaus oder Klinik –, registrierte sie sofort jedes Hinweisschild. Wenn sie einen Vertrag unterschreiben musste, las sie akribisch jeden einzelnen Paragrafen und auch das versteckteste Kleingedruckte.
    Die Klinik Robert-Debré war auf seltene Kinderkrankheiten spezialisiert. Naoko vermutete, dass es in einem hauptsächlich mit Kindern und Jugendlichen belegten Krankenhaus mehrere Aufenthalts- und Freizeiträume gab. Als Shinji wegen einer Blinddarmoperation im Necker-Klinikum gelegen hatte, war sie mit ihm in einem großen Raum voller Gesellschaftsspiele, Bücher und Computer gewesen. Und wenn es Computer gab, gab es mit Sicherheit auch Internet.
    Mit dem Aufzug fuhr sie in die erste Etage und machte sich auf die Suche. Mehr denn je sah sie aus wie eine Mutter auf der Suche nach ihrem Kind. Nur ihre Gangart passte nicht ganz. Sie erinnerte eher an den Rückzug der japanischen Armee von der Insel Okinawa.
    Am Ende des Flurs befand sich ein Raum namens »Blauer Himmel«. »Kein Zutritt für Erwachsene«, warnte ein Zettel an der Tür. Eine Aufsicht war nicht zu entdecken. Bemalte Wände, Tischfußballgeräte, Musikinstrumente. Die Clubmitglieder trugen zum Teil Jeans und T-Shirt, die weniger Glücklichen waren im Pyjama und zogen ein Infusionsgestell hinter sich her.
    Naoko sah Kinder, die auf Tastaturen herumtippten, als hinge ihr Leben davon ab.

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