Die Wahrheit des Blutes
Rechten. Das entsetzliche Bild der zweigeteilten Sandrine wich ihm nicht aus dem Kopf. Konnte so etwas wirklich das Werk einer Frau sein?
Ja. Es war möglich. Während er in den zweiten Stock hinaufstieg, hätte sie sich in den oberen Etagen verbergen können, und als er sich um die Leiche kümmerte, konnte sie in aller Gemütsruhe das Haus verlassen. Oder sie hatte sich in einem der Zimmer versteckt, ehe sie floh. In diesem Fall jedoch hätten die Gaffer vor dem Haus sie gesehen. Also musste sie noch hier sein. Irgendwo zwischen diesen Wänden.
Er stieg bis ins fünfte Stockwerk hinauf und verließ sich dabei auf sein inneres Sonargerät zum Aufspüren negativer Wellen. Kein Verdächtiger weit und breit. Im Treppenhaus war es still geworden. Er suchte und fand die Leiter, die auf das Flachdach führte.
Er öffnete die Luke und hievte sich auf das Dach. Es war flach wie ein mit Schornsteinen und Belüftungskästen gespicktes Basketballfeld. In großen Pfützen spiegelte sich der Himmel. In der Ferne konnte er das Pariser Becken erkennen, das vom Boulevard Périphérique begrenzt wurde. Über der Stadt hing eine dunstige Hitzeglocke, was in diesem ausgesprochen verregneten Juni eher verwunderlich war. Der Anblick erinnerte Passan daran, dass er einst unter Schwindel und Höhenangst gelitten hatte und jeder Abgrund ihn magisch anzog. Doch diese Zeiten waren vorbei, was ihm unwillkürlich eine gewisse Zufriedenheit entlockte. Inzwischen waren seine Dämonen wieder sehr real. Sie töteten mit scharfen Waffen und hinterließen Schriftzeichen auf Schränken.
Mit allen Sinnen in Alarmbereitschaft zog er seine Pistole und schlich sich an die Betonblöcke heran. Dabei murmelte er immer wieder die Worte »Sandrine ist tot … Sandrine ist tot …«, als müsse er sich erst noch überzeugen, dass es wirklich so war.
Versteckte sich die Mörderin vielleicht hinter einem der Schornsteine? Mit der Glock in beiden Händen huschte er vorwärts. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen knirschte hier und da ein Steinchen unter seiner Sohle. Er umrundete den ersten Schornstein. Niemand. Einen zweiten. Gleiches Ergebnis. Und so ging es weiter. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass seit Naokos Sturz eine halbe Stunde verstrichen war.
Der Mörder oder die Mörderin konnte längst über alle Berge sein.
Auf der Leiter kam ihm plötzlich eine Idee. Er versuchte die Aufzugtür in der fünften Etage zu öffnen. Sie war blockiert. Genau wie im vierten und dritten Stockwerk. Im zweiten und ersten Geschoss ebenso. Trotzdem versuchte er es auch noch im Erdgeschoss, wo das Schild »Außer Betrieb« hing.
Die Tür ließ sich öffnen und gab den Blick auf die im Halbdunkel liegende Kabine frei.
»Scheiße!«, fluchte Passan dumpf. Während der Panik nach der Entdeckung der Leiche hatte die Mörderin sich hier ganz einfach verstecken können.
Niemand hatte daran gedacht, hier nach ihr zu suchen.
67
Jetzt war alles umgekehrt. Nun war es Passan, der vor Naokos Bett hin und her lief. Das Krankenhaus war ein anderes – Naoko lag in der Kinderklinik Robert-Debré – doch das Zimmer erschien ihm ebenso wenig einladend und genauso schlecht ausgestattet wie seines in Nanterre. Wie er selbst zwei Tage zuvor hatte auch Naoko das Privileg, allein zu liegen. Ansonsten war es dasselbe wie bei ihm: trist gestrichene Wände, übler Geruch und ungesunde Hitze.
Um vier Uhr nachmittags fuhr Fifi zum Reitstall und holte Shinji und Hiroki ab. Nach Suresnes konnte er sie nicht bringen, ebenso wenig zu Sandrine. Sie aßen bei McDonald’s und flüchteten sich anschließend in ein Kino wie in einen Bunker. Die Vorstellung endete um sechs, danach würde man weitersehen.
Seit Minuten schon wiederholte Passan die gleichen Fragen, ohne auf Naokos Schwäche zu achten. Das Nähen ihrer Wunde hatte fast eine Stunde gedauert, und jetzt war sie mit Codeinpräparaten vollgepumpt.
»Gib Ruhe«, murmelte sie. »Du nervst.«
»Es ist ein wahres Wunder, dass du so glimpflich davongekommen bist.«
»Alles ist bestens. Frag den Arzt. Es ist nur ein Kratzer.«
»Ein Kratzer? Man hat dich mit einem Schwert verletzt.«
»Die Klinge hat nur meine Haut angeritzt. Und das Auto hat meinen Sturz abgefedert. Ich werde wohl ein paar dicke blaue Flecken bekommen, aber das war’s auch schon.«
Passan nickte heftig.
»Wirklich ein Wunder«, murmelte er.
Naoko lag unbeweglich in ihrem Bett. Wie eine Sphinx. In ihrer Armbeuge steckte eine Infusionsnadel.
»Was genau hast du
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