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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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gesehen?«, bohrte er hartnäckig weiter.
    »Das habe ich dir doch schon zum x-ten Mal gesagt: nichts.«
    »Aber du hast gesehen, wer Sandrine getötet hat, oder?«
    Naoko versuchte eine Geste, doch ihre Hand fiel schlaff auf die Decke zurück.
    »Ich habe eine Gestalt gesehen. Ganz in Schwarz. Sie stand hinter Sandrine. Und dann war da nur noch Blut. Alles war rot. Ich konnte mich gerade noch aus dem Fenster werfen.«
    »Erinnerst du dich wirklich an gar nichts mehr? Nicht an das kleinste Detail?«
    »Ich glaube, dass es eine Frau war.«
    »Eine Japanerin?«
    »Wenn ich mir vor Augen halte, wie sie mit dem Katana umgegangen ist – ja. Sie hat Sandrine mit einer einzigen Bewegung getötet.« Ihre Stimme wurde leiser. »Arme Sandrine. Sie und ihre Kimonos.«
    Sie schluchzte auf. Passan jedoch hatte keine Zeit für Mitleid. Naoko und er waren die Nächsten auf der Liste, dessen war er sicher. Eine Liste auf japanische Art. Die No-Maske. Der Kimono. Und jetzt auch noch der Katana. Die Mörderin war den alten Traditionen zugetan. Denen, die Passan selbst so sehr verehrte.
    »Wusstest du, dass sie Krebs hatte?«
    »Wer?«
    »Sandrine. Und zwar im Endstadium. Sie hätte nur noch ein paar Monate zu leben gehabt.«
    Nein, davon hatte er nichts geahnt. Und als müsse er sich dafür entschuldigen, erwiderte Passan:
    »Die Obduktion braucht noch einige Zeit.«
    »Klar, man braucht ja nur die Rechtsmedizin, um mehr über das Leben der Leute zu erfahren.«
    »Sehr witzig!«
    Naoko richtete sich in ihrem Bett auf.
    »Verstehst du denn nicht, was passiert ist? Wir mit unserem blöden Dauerstreit, unserer Scheidung und unserem gemeinsamen Sorgerecht – wie haben den Blick für das Wesentliche verloren. Wir haben uns so auf unser eigenes kleines Elend konzentriert, dass wir gar nicht gemerkt haben, dass unsere beste Freundin langsam dahinstarb.«
    »Ich finde unser Elend gar nicht so klein«, entgegnete Passan.
    Naoko fuhr wie hypnotisiert fort, als spräche sie mit sich selbst:
    »Als ich die Kimonos im Schrank gesehen habe, dachte ich, sie würde hinter den Angriffen gegen uns stecken. Natürlich war es absurd, aber im ersten Moment …«
    »Und was genau wollte sie?«
    »Ich weiß es nicht. Es ging ihr um Japan. Sie wollte die letzten Wochen mit mir und den Kindern verbringen. Sie sprach auch von Kami …«
    »Ist sie Shintoistin gewesen?«
    »Wenn ich dir doch sage, dass ich es nicht weiß! Wer ahnt schon, was sich im Kopf von todgeweihten Menschen abspielt.« Naoko senkte die Stimme. »Vielleicht fand sie Trost in fernöstlicher Mystik und der Gelassenheit des Zen … So ein Quatsch! Japan ist wirklich Gift!«
    Zwar schockierte dieser letzte Satz Passan, doch er verstand, was Naoko meinte. Japan übernahm für den Westen eine Art Ventilfunktion. Anstatt die eigenen Probleme selbst zu lösen, zog man es vor, von einem asiatischen Garten Eden zu träumen, einem von Frieden und Heiterkeit durchfluteten japanischen Ideal. Davon konnte er ja selbst ein Lied singen.
    »Lass uns über die Mörderin sprechen«, sagte er mit fester Stimme. »Du musst sie gesehen haben. Was hatte sie an?«
    »Etwas Schwarzes. Glaube ich zumindest. Aber genau weiß ich es nicht.«
    »Wie alt?«
    »Du kotzt mich an. Das Ganze hat gerade mal eine Sekunde gedauert. Ich musste mitansehen, wie Sandrine in zwei Stücke zerschnitten wurde. Ich hatte Blut in den Augen. Ich … ich habe mich umgedreht und bin gesprungen. Ich …«
    Ihre Stimme versagte. Sie schluchzte einmal auf. In ihren Augen standen Tränen. Eine Europäerin hätte in dieser Situation vermutlich Rotz und Wasser geheult.
    Passan ließ sich erweichen und trat ans Bett.
    »Du musst dich jetzt ausruhen. Morgen sehen wir weiter. Wir haben uns von Anfang an geirrt, verstehst du? Ich war immer der Meinung, dass sich die Angriffe gegen mich richteten. Ich dachte an Guillard oder irgendeinen anderen Abschaum. Aber so, wie es jetzt aussieht, hat das alles mit dir zu tun. Und zwar schon die ganze Zeit. Diese Geschichte hat einen japanischen Hintergrund.«
    Naoko riss die Augen auf.
    »Allein die Tatsache, dass ein verrückter Krimineller sich als Japaner verkleidet, heißt doch noch lange nicht …«
    Passan kramte sein iPhone aus der Tasche und zeigte ihr das Foto, das er am Tatort gemacht hatte.
    »Das hier stand auf dem Schrank. Was heißt es?«
    Naoko fuhr zurück. Passan bemerkte, dass sie heftig schluckte. Ihre Kehle bebte. Ihre Haut schimmerte nicht mehr weiß, sondern gelblich, wie

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