Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
richtigen Sommer zu warten.
    Chiba. Funabashi. Takasago. Tokio Station. Passan und Shigeru schwiegen während der ganzen Fahrt. Unmöglich, hier im Zug Klartext zu reden. Endlich erreichte der Express das Stadtzentrum. Wie eine lange Nadel, die mitten in ein Organ sticht.
    In Shibuya stiegen sie aus.
    »Ich besorge uns ein Taxi«, sagte Shigeru.
    Shibuya ist eines der modernsten Stadtviertel Tokios. Bunte Neonreklamen, Glasfassaden, Hightech-Läden und auf Kawaii getrimmte junge Mädchen. An diesem Tag jedoch verschwanden Türme, Autos, Schilder und Regenschirme in der Sintflut. Der Regen übertönte sogar den Verkehrslärm, das Pfeifen der Stadtbahn, die Musik aus den Geschäften und das Stimmengewirr der Passanten.
    »Warte hier!«, rief Shigeru.
    Passan stellte sich unter das Vordach eines Handyladens. Auch hier sah man deutlich die Folgen der Stromrationierung. Schaufenster, die sonst von Tausenden Lichtern erhellt worden waren, lagen im Halbdunkel. Normalerweise grell beleuchtete Getränkeautomaten blieben düster, und einige Geschäfte hatten sogar geschlossen. Tokio musste sich erst wieder erholen.
    Passan atmete tief die japanische Luft ein. Er sah nichts als Regenschirme – kuppelartig große, sonnenschirmbunte und durchsichtige. Darunter hasteten eilige Angestellte, Mädchen in Miniröcken und Netzstrümpfen, Hausfrauen mit griesgrämigen Gesichtern und »Sojas« – magere junge Männer mit gelben Haaren und Krokostiefeln, die ihre Seelen in einem Labyrinth aus Pillen und Computerschaltkreisen verloren hatten.
    »Olivier-san!«
    Shigeru hatte ein Taxi gefunden. Passan durchbrach die Menschenmenge und schlüpfte in den Wagen. Weiße Handschuhe, Wäschereigeruch, Automatiktüren: Japanische Taxen waren das völlige Kontrastprogramm zu den Pariser Droschken.
    Atemlos presste er seine Reisetasche an die Brust. Wie jedes Mal war er auf Hilfe angewiesen, anders ging es einfach nicht. Er verstand kein einziges japanisches Schriftzeichen und konnte sich nicht orientieren. Außerdem wusste er, dass die meisten Straßen weder Namen noch Hausnummern besaßen.
    Die Fahrt dauerte etwa zwanzig Minuten. Naokos Eltern wohnten in Hiroo, dem Wohnviertel, in dem sich auch die französische Botschaft befand. Passans Magen knurrte, und ihm war schwindelig. Dennoch fühlte er sich wie im siebten Himmel. Merkwürdigerweise empfand er in Tokio, einer mehr als dreißig Millionen Einwohner zählenden Megametropole, immer einen wohltätigen Frieden. Ganz gleich, wo er sich aufhielt und wie viele Menschen um ihn herum waren, trotz des Wahnsinnsverkehrs, der unzähligen Hängebrücken und der verwirrenden Schriftzeichen überkam ihn hier ein Gefühl von Ordnung und Heiterkeit.
    Das Taxi hielt an. Passan überließ es Shigeru zu zahlen, denn er hatte kein Geld umgetauscht. Ein weiterer Schwachpunkt.
    Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, doch es war immer noch schwülwarm. Die Umgebung sah hier anders aus. Straßen, die auf menschliche Maße zugeschnitten waren, glänzten leer und still im Regen. Ein Stück weiter stiegen die Dämpfe eines öffentlichen Bades auf. Das leuchtende Grün eines Baseballfeldes. Über ihren Köpfen zerteilte ein dichtes Netz aus Kabeln und elektrischen Leitungen den Himmel von Tokio. Lange hatte Passan sich gefragt, warum man im Paradies der Hochtechnologie hinsichtlich der Energieversorgung auf Wildwestniveau samt Telegrafenstangen geblieben war. Doch die Antwort darauf war einfach: In einem Land, in dem die Erde so oft bebte, konnte man keine unterirdischen Kabel verlegen, weil es sonst beim geringsten Erdstoß zu Kurzschlüssen kommen würde.
    Vor einem grün gestrichenen Eisentor hielten sie an.
    Das Haus der Familie.

82
    Naokos Eltern lebten in einer modernen Villa ohne besondere Merkmale. Grauer Zement, braune Dachziegel, sachliche Linien. Die einzige Besonderheit befand sich hinter dem Haus – ein fast fünfhundert Quadratmeter großer Gemüsegarten, der in der Enge Japans einen ungeheuren Luxus darstellte.
    Passan und Shigeru zogen die Schuhe aus und betraten das Haus, ohne vorher zu läuten. Shigeru machte sich nicht einmal die Mühe, das traditionelle »Tadaima« (Ich bin da) zu rufen. Das Haus schien leer. Es herrschte eine Bullenhitze. Normalerweise fror man hier wie in einem Kühlschrank, doch heute drehte sich lediglich ein Ventilator an der Wohnzimmerdecke. Erst jetzt bemerkte Passan seine nasse Kleidung und seine klebrige Haut, die hier mit Sicherheit nicht trocknen würden.
    Er

Weitere Kostenlose Bücher