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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Alkohol und die Drogen hinter sich gelassen hatte, arbeitete er als Lehrer für Englisch und Französisch.
    Passan winkte ihm ohne ein Lächeln zu. Auch wenn er Naoko vielleicht verzeihen konnte, würde er doch immer ihrer Familie schwere Vorwürfe machen. Sie hatten ihm von Anfang an misstraut. Ihm, dem Gaijin.
    »Hallo, Shigeru.«
    »Olivier-san.«
    Sie verbeugten sich und schüttelten einander gleichzeitig die Hand. Passan hatte sich in Gegenwart seines Schwagers noch nie richtig wohlgefühlt. Doch um der Wahrheit die Ehre zu geben: Wenn er einem Japaner männlichen Geschlechts begegnete, war ihm stets unbehaglich zumute. Grundsätzlich verspürte er eine Art von Rivalität, wusste aber nicht, ob dieses Gefühl begründet war oder ob es sich dabei um seine persönliche Paranoia handelte.
    Shigeru hieß ihn auf typisch japanische Art willkommen: Er verlor kein Wort über Passans verbranntes Gesicht oder über seine Mütze, die wie ein über den Kopf gezogener Socken aussah.
    »Sind sie da?«, erkundigte sich Passan mit einer gewissen Unruhe.
    »Shinji und Hiroki befinden sich bei meinen Eltern.«
    »Und deine Schwester?«
    »Ist schon weitergereist.«
    »Wohin?«
    »Keine Ahnung.«
    Jetzt geht es los mit den Lügen, dachte Passan. Er musterte seinen Schwager. Shigeru gab sich als Dandy mit langem Haar und ergrauendem Spitzbart, coolen Klamotten und Regenschirm unter dem Arm. Eine Brille mit runden Gläsern verriet den Intellektuellen. Sein dichtes, hoch angesetztes Haar verlieh ihm ein stolzes Aussehen.
    »Du hast mir etwas zu sagen, nicht wahr?«
    Shigeru griff nach Passans Tasche.
    »Wir nehmen den Express. In einer Stunde sind wir in Tokio.«
    Erste Ausflucht. Passan hielt die Zeit noch nicht für gekommen, ihn in die Mangel zu nehmen. Doch er war entschlossen, hier von Anfang an den harten, methodisch arbeitenden Polizisten herauszukehren. Diplomatie schien ihm fehl am Platz.
    »Ich möchte die Kinder sehen.«
    »Wir sind auf dem Weg. Meine Eltern erwarten uns.«
    »Glaubst du, ich bin ihnen willkommen?«, fragte Passan in einem Anflug von Unsicherheit.
    Shigeru lachte auf.
    »So wie immer.«
    Die Antwort war schon mehr als pervers. Ruhig Blut. Passan folgte seinem Führer zum Ausgang.
    Für einen französischen Ermittler war Japan nun mal ein ungünstiges Pflaster.

81
    Schon im Zubringer bemerkte Passan, dass etwas nicht stimmte. Der Zug war nur schwach beleuchtet, und es herrschten Treibhaustemperaturen, weil die Klimaanlage nicht funktionierte. Das allerdings bedeutete, dass man das System bewusst abgeschaltet hatte, denn in Japan ging nie etwas kaputt.
    Fukushima. Passan fiel ein, dass infolge des Tsunami nach dem großen Erdbeben strengere Maßnahmen hinsichtlich der Stromversorgung beschlossen worden waren.
    Die Passagiere hingegen boten ein vertrautes Bild. Begeisterte Backpacker aus Amerika oder Australien. Gleichmütige Geschäftsreisende, die sich auf ihre Rollkoffer stützten. Japanische Flugbegleiterinnen in dunkelblauen Uniformen, die hinter vorgehaltener Hand kicherten. Einige Passagiere lasen, doch ihre Bücher waren alle auf dieselbe Weise verdeckt, als ob alle sich in das gleiche Werk vertieft hätten – vielleicht Lebensweisheiten oder philosophische Richtlinien, die es den Menschen ermöglichten, immer in die gleiche Richtung vorwärtszustreben. Manche waren auch eingenickt. Eine der großen Stärken der Japaner ist es, zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort schlafen zu können. Eine Frau schnarchte mit offenem Mund. Ein Anzugträger schlummerte im Stehen. Sein magerer Körper passte sich den Stößen des Zuges an wie ein erdbebensicheres Gebäude.
    Mit der flachen Hand wischte Passan über die beschlagene Scheibe. Eine weite, dicht bebaute Ebene löste sich in der Ferne in einen flüssigen Horizont auf. Gedrungene Häuser belegten auch noch den kleinsten freien Platz bis dicht an den Schienenstrang. Über dem Einheitsgrau erhoben sich dicht an dicht unzählige Satellitenschüsseln auf vom Regen lackierten Dächern und Vordächern aus Blech. Der Anblick erinnerte an eine japanische Tuschezeichnung in verschiedenen Graustufen.
    Im Juni herrscht in Japan Regenzeit, die Tsuyu oder Nyubai genannt wird. Sie zeichnet sich aus durch wochenlangen, unablässigen Niederschlag in den Varianten Nieseln, Dunst, Sprüh- oder Platzregen. Es ist gleichzeitig erstickend warm und extrem schwül. Eine Monsunzeit jenseits der Tropen. Eine Sintflut ohne Noah. Da bleibt nichts anderes übrig, als auf den

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