Die Wahrheit des Blutes
manchmal – sehr selten – wirklich gelacht. Es war ihm vorgekommen wie sprühende Funken und zärtliches Gurren; ein Ausbruch von Sinnlichkeit, der ihre makellosen Zähne enthüllte. Umso verwunderlicher war es, dass ihr dieses Lachen ausgerechnet in völlig unerwarteten Situationen entschlüpfte. Einmal geschah es in einem Schwimmbad mit viel zu kaltem Wasser. Ein anderes Mal bei einem Karaoke-Abend im Tokioter Viertel Shibuya. Oder als Passan beinahe vom neuen Hund ihrer Eltern gebissen worden wäre. Dann war es, als ob die Porzellanglasur ihres Gesichtes zerbröckelte und eine ganz besondere, neue Textur enthüllte. Freudenpartikel schwebten durch die Luft, als puste man in eine Puderdose. Manchmal musste Passan an das Magnesiumpulver denken, das Turner benutzten, um der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. Und eigentlich war es genau das: Naoko löste sich auf und flog davon wie eine Wolke aus Talkum. In solchen Momenten war er sich ganz sicher gewesen, dass ihre Seele unendlich klar und rein war.
Aber da hatte er wohl ziemlich danebengelegen …
Und doch verstand er sie. Sie hatte ihm nichts gesagt, weil in ihren Augen eine Frau ohne Uterus keine richtige Frau war. Eine wahrhaft japanische Entscheidung. Lüge oder Selbsttötung. Er würde Naoko auf einem Weg begegnen, auf dem er sie nie zu treffen geglaubt hätte. Dem Weg der japanischen Traditionen, wo es nur um harte und reine Ehre ging. Wieder einmal sah er ihren unbeweglichen Blick vor sich, wie schwarzer Lack, nicht zu entziffern und dennoch von der seltsamen Klarheit eines Geheimnisses.
Er konnte jetzt nur noch eines tun: ihr zu Hilfe eilen.
Utajima. Ayumi Yamada. Ein Ort und eine Gegnerin. Man musste kein Genie sein, um zu erraten, dass es sich hier um ein Rendezvous handelte. Ein tödliches Rendezvous.
Naoko flog heim, um mit dieser Frau abzurechnen.
Es handelte sich um eine Geschichte von Blut und Hass. Eine Geschichte, wie Polizisten sie liebten.
Und selbst zehntausend Kilometer von zu Hause entfernt würde er damit fertigwerden.
80
15 Uhr Ortszeit am nächsten Tag.
Als Passan aus dem Flugzeug stieg, fühlte er sich fast wie zu Hause. Das regennasse Rollfeld verschwamm mit dem niedrigen farblosen Himmel. Die Pariser Sintflut setzte sich hier fort. Eigentlich eine logische Antwort des Schicksals. Schließlich war Passan nach Japan gekommen, um hier das zu vollenden, was er in Frankreich begonnen hatte.
Die eintönige Umgebung erinnerte ihn an seinen Zustand. Im Flugzeug war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken. Erst wenige Minuten vor der Landung kam er wieder zu sich, ohne auch nur das Geringste von dem Flug mitbekommen zu haben. Aber zumindest fühlte sein Körper sich ausgeruht an.
Er folgte den anderen Fluggästen und fand sich in einer großen Halle wieder, die aufgeteilt war wie ein zweisprachiges Buch: Japanisch auf der einen und Englisch auf der anderen Seite. Ansonsten sah es in Narita aus wie auf allen anderen Flughäfen der Welt. Betonkonstruktionen, indirektes Licht und kalte, glänzende Materialien. Bis auf einen Unterschied, den er immer wieder mit der gleichen Überraschung und der gleichen Unbefangenheit registrierte: Hier gab es fast ausschließlich Japaner.
Flache Gesichter, die lächelten, aber gleichzeitig verschlossen wirkten. Wieder empfand Passan die Erregung und die Begeisterung, die ihn schon 1994 gepackt hatten, als er seinen Fuß zum ersten Mal auf den Boden des Inselreichs setzte. Fast war es, als würde er die Menschen und das Land wiedererkennen.
Da er seine Tasche als Handgepäck eingecheckt hatte, konnte er direkt zum Ausgang gehen. Noch vor dem Abflug, gegen 17 Uhr Pariser Zeit, als es in Tokio Mitternacht war, hatte er Naokos Bruder Shigeru angerufen. Sein Schwager konnte ihn durch den Moloch dieser Stadt führen und wusste vielleicht Näheres. Passan hatte sich sehr klar ausgedrückt. Shigeru konnte sich als Mitwisser eines Komplotts nicht einfach aus dem Staub machen, sondern schuldete ihm Hilfe und Unterstützung.
Passan passierte den Zoll und betrat die Ankunftshalle. Shigeru erwartete ihn bereits. In den Büchern und Filmen der Gaijin werden Japaner immer emotionslos dargestellt oder sie lächeln ununterbrochen. Sie halten sich sehr gerade, ihre Arme hängen am Körper herab, und sie sind ständig bereit, jeden mit einer automatenhaften Verbeugung zu begrüßen. Shigeru passte nicht in dieses Muster. Er war etwa vierzig Jahre alt und wirkte sehr entspannt. Seit er die Musik, den
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