Die Wahrheit des Blutes
stellte seine Reisetasche ab und hatte das Gefühl, als wäre er höchstens einen Tag fort gewesen. Nur dass die Wände jetzt die Risse des letzten Erdbebens zeigten. Shigeru berichtete, dass Tokio seit dem großen Beben im März jede Woche von mindestens zwei bis drei Erdstößen erschüttert wurde. Wozu also renovieren, wenn man ohnehin demnächst das ganze Haus wieder aufbauen musste? Passan ging nicht näher darauf ein. Er war an die stoische Haltung der Japaner gewöhnt: Wenn ein Problem nicht lösbar ist, dann existiert es nicht.
Das Haus war in einer Mischung aus westlichem und japanischem Stil eingerichtet. Es gab europäisch möblierte Zimmer, andere waren in traditioneller Weise mit Matten ausgelegt. Aber selbst in den modernen Räumen erkannte man japanische Tendenzen. Das Parkett aus Zypressenholz glänzte wie schwarze Seide, und Creme- und Schokoladentöne unterstrichen die japanische Nüchternheit. An den Wänden erinnerten sorgfältig gerahmte Kalligrafien an die Art und Weise, wie man hier das Leben sah.
Sie durchquerten das Esszimmer und gingen in den Salon. Immer noch war niemand zu sehen. Shigeru musste über Passans Unruhe lachen.
»Sie sind im Garten.«
Er öffnete die Verandatür. Ein feuchter Luftstrom drang ins Wohnzimmer. Shinji und Hiroki, die beide Moskitonetzkappen trugen, machten sich zwischen Paprika-, Kürbis- und Gurkenpflanzen zu schaffen.
Als sie ihren Vater entdeckten, sprangen sie über die Beete und warfen sich in seine Arme. Innerhalb weniger Tage hatten sie in mehreren verschiedenen Betten geschlafen, die Schule verlassen, waren mit dem Flugzeug geflogen und wohnten jetzt bei ihren japanischen Großeltern – und das alles mitten im Schuljahr. Aber die Situation schien ihnen durchaus zu behagen. Selbst der Jetlag konnte ihre Fröhlichkeit nicht beeinträchtigen.
»Wir ernten Tomaten mit Oma und Opa«, trompetete Shinji und streifte seine viel zu großen Gärtnerhandschuhe ab.
»Und wir haben einen neuen Hund«, trumpfte Hiroki auf. »Er heißt Cristal.«
Die beiden Jungen waren schmutzig und strahlten. Passan entdeckte die Großeltern, die sich hinter ihren Tomaten zu verstecken schienen. Naokos Vater hatte einen glatten dunklen Teint wie eine Esskastanie und lächelte wie ein zufriedener Großvater. Die Mutter war recht klein, ausgesprochen blass, kleidete sich grundsätzlich in Grau und Braun und winkte ihm zu, als stünde sie auf einem Bahnsteig. Ihr Gesicht leuchtete wie eine Papierlampe, die ein indirektes, sanftes Licht auf die Umgebung wirft.
»Okaeri nasai. Willkommen zu Hause«, riefen sie fast gleichzeitig.
Vermutlich hatte Shigeru Passan angekündigt, denn sie schienen nicht erstaunt über seinen Besuch. Trotz allem war Passan irgendwie glücklich, die alten Herrschaften zu sehen. Die Erinnerungen überwältigten ihn fast. Er kannte den Gemüsegarten im Hochsommer, wenn das Zirpen der Grillen fast ohrenbetäubend wurde. Aber er hatte ihn auch schon im Winter gesehen, wenn Schnee auf jedem Halm lastete. Und er hatte ihn im Herbst bewundert, wenn die Kiefern im Wind murmelten und die Ahornblätter wie Blutstropfen zur Erde fielen.
Als er schließlich vor seinen Schwiegereltern stand, verbeugte er sich tief und stammelte ein paar englische Worte. Sie antworteten auf Japanisch. Sie hatten sich nie verständigen können.
Was er über seine Schwiegereltern wusste, hatte er von Naoko erfahren, den Rest verdankte er seiner Intuition. Der Vater verachtete ihn auf eine herzliche Art, ohne daraus einen Staatsakt zu machen. Die Mutter mochte ihn zwar, fürchtete ihn aber auch. In seiner Gegenwart wandte sie die Augen ab und stellte niemals Fragen. Im Grunde ähnelten sie und Passan sich mehr, als sie ahnten: Sie war fasziniert von Frankreich, er von Japan. Sie waren sich auf dem Rollfeld ihrer Wunschträume begegnet.
Frau Akutagawa bot Zitronenlimonade an. Schon bald drehte sich das von Shigeru übersetzte Gespräch um die belanglosesten Dinge. Wenn man in Japan nicht über den Hund oder das Wetter redet, wird man rasch für indiskret gehalten. Passan hätte am liebsten losgebrüllt. Oder den Tisch zertrümmert. Es war ihm unmöglich, herauszufinden, wie viel die Schwiegereltern wussten. Nur eins war klar: Sie würden ihm kein Sterbenswörtchen verraten.
Er nahm noch ein Glas Zitronenlimonade. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts mehr gegessen, und sein Magen knurrte. Abgesehen davon spürte er wieder die Brandwunden in seinem Gesicht. Die Schwiegereltern
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