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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Unverständliches. Im Licht der Straßenbeleuchtung wirkte sein Blick abwesend, und seine Züge sahen verschwommen aus. Ein Lächeln kräuselte seine Lippen. Er war sturzbetrunken.
    »Woran ist er gestorben?«, wiederholte Passan.
    »Selbstmord«, erwiderte Shigeru etwas lauter.
    Passan hatte den Eindruck, einem vorgezeichneten Weg zu folgen. Nach dem Kenjutsu nun die Selbsttötung.
    »Gab es Ermittlungen?«
    »Ich glaube schon. Aber ohne Ergebnis.«
    Während Shigeru zunehmend die Orientierung verlor, fand Passan nach und nach seinen Rhythmus und seinen Scharfsinn wieder. Im Geiste vollzog er die Verkettung der Ereignisse nach. Der Vater hatte sich umgebracht. Die Tochter war einsam. Sie hatte Kontakt zu Naoko aufgenommen, die jedoch nicht antwortete. Aus ihrer Verzweiflung wurde zunächst Wut und dann tödlicher Wahnsinn.
    »Was ist Ayumi von Beruf?«
    »Gynäkologin. Auch ihr Vater war Frauenarzt.«
    Schön langsam. Nicht so schnell. Nachdem Passan so lange im Dunkeln getappt war, gingen ihm plötzlich sämtliche Lichter gleichzeitig auf. Ayumi war nicht einfach die Jugendfreundin, der Naoko eine heikle Mission aufgebürdet hatte, sondern sie war die Organisatorin gewesen. Vielleicht hatte Naoko von ihrer Ausbildung erfahren und Kontakt zu ihr aufgenommen, um mit ihr über den Schwindel zu beratschlagen. Nur eine Sache begriff er noch nicht.
    »Aber wie kann sie mit ihrem Handicap überhaupt praktizieren?«
    Shigeru fuhr sich mit der Hand durch seine dichte ergrauende Haarmähne – viel Pfeffer, wenig Salz.
    »Sie hat keine Praxis. Sie arbeitet in der Forschung.«
    Das wurde ja immer besser. Ayumi stand also im Kontakt mit einem internationalen Netzwerk von Medizinern. Sie hatte alles in die Wege geleitet. Beide Male. Sie hatte es Naoko – und sich selbst – ermöglicht, eine Familie zu gründen. Und was hatte sie für ihre Mühe bekommen? Nichts. Naoko hatte die Brücken hinter sich abgebrochen. Für sie war es das beste Mittel, ihr Geheimnis zu bewahren. Passan wunderte sich, dass sie einen solch gravierenden Fehler begangen hatte. In Japan gibt es nichts Schlimmeres, als eine Schuld oder eine Verantwortung nicht zu begleichen.
    Der Sprühregen verstärkte sich. Passan kam es vor, als gingen sie unter einem Zerstäuber her. Die Umgebung glich einem pointillistischen Gemälde. Die Lichtpfützen unter den Straßenlaternen. Die Wipfel der Kiefern und Gingkos, die sich im Wind plusterten. Die Schriftzeichen auf dem Asphalt. Alles sah aus wie hingetupft oder wie durch Tüll gerastert.
    »Mir fällt da etwas ein …«, lallte Shigeru.
    »Was denn?«, brüllte Passan ihn an.
    Er war es leid, diesem stammelnden Schluckspecht jeden Wurm einzeln aus der Nase zu ziehen.
    »Bei der Beerdigung habe ich einen Freund der Familie kennengelernt. Einen Psychoanalytiker. Takeshi Ueda. Oder Oda, das weiß ich nicht mehr genau. Ein sehr kultivierter, weit gereister Herr. Er sprach übrigens ausgezeichnet Französisch.«
    »Ja und?«
    Shigeru schluckte.
    »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, war Ayumi seine Patientin.«
    Passan riss ihm den Schirm aus der Hand.
    »Wo kann ich den Mann finden?«
    Sein Schwager runzelte die Stirn. Derart unschickliches Verhalten war ihm zuwider.
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    »In Paris hätte ich dich schon längst hinter Schloss und Riegel gebracht«, presste Passan zwischen den Zähnen hervor.
    »Entschuldige, jetzt fällt es mir wieder ein … Ich muss irgendwo seine Karte haben.«
    »Wo?«
    »Bei mir zu Hause, nehme ich an.«
    Passan hatte es plötzlich sehr eilig.
    »Wir nehmen ein Taxi. Zuerst zu deinen Eltern, dann zu dir. Und anschließend besuchen wir diesen Psychiater.«
    »Das kannst du dir sparen«, rief Shigeru von hinten. »Er wird nichts sagen.«
    »Es wird höchste Zeit, hier andere Saiten aufzuziehen«, fauchte Passan über seine Schulter hinweg. »Jetzt nehmen wir die Sache mal auf französische Art in die Hand.«

85
    Naoko hatte auf ihre Nachricht keine Antwort erhalten, erwartete aber auch nichts dergleichen. Sie war nicht so naiv, zu glauben, dass sie die Zügel in der Hand hielt. Sie führte lediglich Ayumis Anordnungen aus. Ein Ehrenduell. Mit scharfen Waffen. Die Kränkung mit Blut abwaschen. Utajima. Die Insel, wo sie so oft trainiert hatten. All das war Ayumis Plan.
    Warum unterwarf sie sich? Warum schaltete sie nicht einfach die Polizei ein?
    Die Stimme der Flugbegleiterin verkündete den bevorstehenden Start des Fluges nach Nagasaki. Naoko legte ihren Gurt

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