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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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packte er die Flasche und goss sich Sake nach. Öl auf das Feuer. Er spürte, wie der Reiswein durch seine Adern rann.
    »In welchem Alter haben sie sich voneinander entfernt?«
    »Ungefähr zu der Zeit, als Naoko anfing, als Model zu arbeiten.«
    Mehrere Möglichkeiten gingen Passan durch den Sinn. Eifersucht? Als Model war Naoko viel gereist, stand im Licht der Öffentlichkeit und hatte die Rolle der besten Freundin mit der des Stars getauscht. Oder war es um Jungs gegangen? Vielleicht aber hatten die beiden Mädchen nach jahrelanger inniger Freundschaft auch einfach nur genug voneinander gehabt.
    Dann allerdings stellte sich die Frage, warum Naoko Ayumi später trotzdem für die sehr vertrauliche Aufgabe ausgewählt hatte. Wann mochte sie der Freundin ihr Problem mitgeteilt haben? Noch während der Zeit ihrer Freundschaft oder später, als es darum ging, eine Leihmutter zu finden? Passan tendierte zur ersten Variante. Vermutlich war Ayumi die Einzige, die das Geheimnis seiner Frau kannte, und deswegen hatte sich Naoko an die ehemalige Freundin gewandt.
    »Hast du ein Foto von Ayumi?«
    »Ich glaube, dass wir bei meinen Eltern fündig werden dürften. Meine Schwester hat viele Erinnerungsstücke in ihrem Zimmer zurückgelassen.«
    Passan graute es bei der Vorstellung, in Naokos Sachen wühlen zu müssen. Er trank noch ein Schälchen Sake und dachte darüber nach, ob er nicht lieber doch die japanische Polizei informieren sollte. Oder die französische Botschaft. Die Nummer des Verbindungsoffiziers hatte er sich notiert.
    Allerdings würde der offizielle Weg viele Stunden in Anspruch nehmen, und für dieses Hin und Her blieb nicht genügend Zeit.
    Abgesehen davon, dass ihm niemand glauben würde und er nicht den geringsten Beweis vorweisen konnte.
    Als er aufstand, wurde ihm schwindelig. Drei Schalen Sake auf nüchternen Magen. Hinter ihm wurde verhalten gekichert. Der Gaijin, der keinen Alkohol vertrug.
    Sein Magen knurrte vernehmlich. Er musste unbedingt etwas essen.
    »Glaubst du, dass deine Mutter mir ein Sandwich machen würde?«

84
    Draußen war es sehr schnell dunkel geworden, als hätte der wieder stärker gewordene feine Regen die Nacht vorangetrieben. Es war, als atme man flüssige Luft. Sie gingen eine typisch japanische Straße hinunter, eine Fahrbahn ohne Bürgersteig, die sich sanft schlängelte. Große Schriftzeichen auf dem Boden. Hohe, kahle Mauern, die unsichtbare Villen schützten. Bäume, die sich über den Asphalt neigten. Ab und zu kamen sie an winzigen Läden voller bunt zusammengewürfelter Ware vorbei, auf deren Schwelle eine Mama-san Ausschau nach Kunden hielt. Und überall hingen Drähte, Kabel und Hinweisschilder, die alles wie in einem Spinnennetz zusammenzuhalten schienen.
    »Hast du Ayumi später noch einmal wiedergesehen?«
    »Ja.«
    Passan blieb stehen und schaute Shigeru an, der seinen Regenschirm über sie beide hielt. Die Regentropfen trommelten auf den Stoff.
    »Wann?«
    »Vor ein paar Monaten, als ihr Vater gestorben war. Meine Eltern wurden informiert und nahmen mich mit zum Kokubetsu shiki, zur Zeremonie nach der Einäscherung. Ayumi hat mir nur kurz etwas auf einen Block geschrieben. Eine einfache Frage.«
    »Und welche?«
    »›Wie geht es Naoko?‹«
    Die Frage konnte höflich gemeint sein. Oder ein Notruf auf Japanisch. Eine indirekte Anspielung auf die Abwesenheit der Freundin.
    »In welchem Zustand war sie?«
    »Im Allgemeinen ist man bei der Beerdigung des eigenen Vaters nicht gerade in Höchstform. Ayumi war Einzelkind. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Sie und ihr Vater standen sich sehr nah.«
    »Dann war sie also sehr betroffen?«
    »Unmöglich zu sagen. Ayumi ist ein … merkwürdiges Mädchen.«
    Wenn ein Japaner sich so ausdrückte, musste ihr Verhalten schon sehr seltsam sein. Passan dachte nach. Ob der Tod ihres Vaters ihr Abgleiten in den Wahnsinn verursacht hatte? Zumindest aber war er für eine Verschlechterung ihres Geisteszustandes verantwortlich.
    »Weißt du noch, wann er beerdigt wurde?«
    »Ich glaube, es war im Februar.«
    »Glaubst du es nur oder bist du sicher?«
    »Ich bin sicher.«
    Es würde passen. Die vereinsamte, ihrer Eltern beraubte Ayumi Yamada hatte sich erinnert, dass sie noch eine andere Familie besaß. Die Kinder, die sie ausgetragen hatte. Ende März war sie schließlich nach Paris geflogen.
    SIE GEHÖREN MIR.
    »Woran ist Ayumis Vater gestorben?«, erkundigte sich Passan im Weitergehen.
    Shigeru murmelte etwas

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