Die Wahrheit des Blutes
gehöre er in eine Puppenstube. Passan gönnte seinem Schwager einige shots , ehe er auf sein Thema zurückkam.
»Erzähle mir von Ayumi.«
»Es ist sehr lange her. Ich habe sie kaum gekannt.«
»Mich interessieren auch Kleinigkeiten.«
Shigeru zuckte die Schultern.
»Mit ungefähr dreizehn oder vierzehn waren sie und Naoko unzertrennlich.«
»Kannten sie sich aus der Schule?«
»Nicht aus der Schule. Sie besuchten den gleichen Dojo.«
»Dann übte sich Naoko also in der Kriegskunst?«
»Nein, sie praktizierte Kenjutsu.«
»Ist das so etwas wie Kendo?«
»Nein.« Shigeru schüttelte ermattet den Kopf. »Kendo entstand am Ende des 19. Jahrhunderts zu Beginn der Meiji-Zeit, als keine Schwerter mehr getragen werden durften. Kenjutsu hingegen ist eine ganz alte Kunst – die Kunst der Samurai.«
»Und worin bestehen die Unterschiede?«
Shigeru machte eine unbestimmte Geste.
»Kenjutsu ist keine Sportart, sondern eine ziemlich unerbittliche Kampfmethode. Ohne Regeln und ohne Vorsichtmaßnahmen. Beim Kendo ruft man zum Beispiel den Namen des Körperteils, den man mit seinem Angriff treffen will. Beim Kenjutsu wäre so etwas undenkbar. Das Ziel ist schließlich, den Gegner zu besiegen, und nicht, ihn zu warnen.«
»Kämpft man mit echten Schwertern?«
Shigeru lachte auf.
»Glücklicherweise nicht, sonst gäbe es vermutlich keinen einzigen unversehrten Schüler mehr in den Dojos.«
Passan spürte, wie seine Wut zurückkehrte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Naoko eine derart alte und gefährliche Kunst ausübte – ausgerechnet sie, die immer die modernen Werte Japans hervorgehoben und die Traditionen als überkommen betrachtet hatte.
»Gehörte sie einer bestimmten Schule an?«, erkundigte er sich ungläubig.
Shigeru leerte ein weiteres Schälchen Sake. Der Alkohol hatte sein Gesicht gerötet.
»Der Schule von Miyamoto Musashi.«
»Dem Samurai?«
Passan kannte den Namen dieses legendären Mannes. Er war ein Ronin – ein freier Samurai –, Maler, Kalligraf, Philosoph und Held unzähliger Legenden, Romane und Filme.
»Die Schule heißt Hyoho Niten-Ichi-Ryu, aber normalerweise sagt man einfach nur Niten.«
»Für jemanden, der selbst keine dieser Kampfkünste ausübt, weißt du ziemlich gut Bescheid.«
Shigeru hielt dem Kellner den leeren Flakon hin.
»Bei uns sind solche Dinge allen geläufig.«
Mit jeder Antwort wurde Passan ein Stück tiefer in den Abgrund gerissen. Er konnte sich nur schwer damit abfinden, dass Naoko sich mit solchen Dingen beschäftigt hatte. Es wärmte ihm nicht etwa das Herz, sondern ließ ihn innerlich zu Eis erstarren. Zehn Jahre hatte er mit einer völlig Unbekannten gelebt!
Er griff zu seinem Sake-Schälchen und kippte den Inhalt mit einem Schluck herunter.
»Kanpai«, sagte Shigeru leise. Es hörte sich an, als hätte er gerülpst.
Passan hasste Sake – ein lauwarmes, fades, süßliches Gebräu –, und in diesem Augenblick hasste er auch Naoko. Doch die warme Flüssigkeit tat ihm gut. Sie wirkte wie ein Desinfektionsmittel zum Reinigen seiner Wunden.
»Warum haben sie sich zerstritten?«
Shigeru rückte seine Brille zurecht und verriet damit sein Unbehagen.
»Ayumi ist ein besonderes Mädchen.«
»Inwiefern?«
»Sie ist von Geburt an stumm.«
Die Tatsache verwunderte Passan weniger als der Rest. Auch Naoko war sicher kein junges Mädchen im herkömmlichen Sinne gewesen und ganz bestimmt nicht besonders einfach. Unwillkürlich stellte er sich die beiden in Aktion vor, wie sie in Schutzkleidung aus Leder ihre Bambusschwerter schwangen.
»Was weißt du noch?«
»Nichts. Manchmal traf ich sie bei uns zu Hause. Immer gestikulierten sie. Sie unterhielten sich in Gebärdensprache.«
»Naoko beherrschte die Gebärdensprache?«
»Sie hat sie für Ayumi erlernt.«
Passan fragte sich allmählich, ob diese Beziehung nicht über ein normales Maß hinausgegangen war.
»Sie waren wirklich nur Freundinnen«, sagte Shigeru, als hätte er Passans Gedanken gelesen. »Eine sehr ausschließliche, leidenschaftliche Freundschaft, wie man sie häufig bei jungen Mädchen findet. Mit Blutschwüren, Versprechen für die Ewigkeit und solchen Dingen. Übrigens ist Ayumi nicht taub, und es gab keinen Grund für Naoko, in Gebärdensprache mit ihr zu reden, aber irgendwie passte sie sich an. Außerdem sorgte diese Besonderheit für eine zusätzliche Nähe.«
Passans Mund brannte. Er hatte den Eindruck, dass seine Zunge anschwoll wie die eines durstigen Tieres. Hastig
Weitere Kostenlose Bücher