Die Wahrheit eines Augenblicks
Denk an Sex! Denk geile, irdische, urgetriebene Gedanken! Denk an den Orgasmus letzte Nacht, der deinen Körper in ekstatischer Lust fortgerissen und deinen Geist reingewaschen hat!
Sie sah Liam nach, der auf dem Weg zurück in seine Klasse war. Er stand neben einem Kind, das Tess kannte. Polly Fitzpatrick, Cecilias jüngste Tochter, die atemberaubend schön war und neben dem spindeldürren, kleinen Liam amazonengleich wirkte. Polly hielt Liam die Hand hin, damit er sie abklatschte, und er strahlte vor Freude.
Mist, verdammter! Will hatte schon wieder recht gehabt. Liam brauchte einen Schulwechsel.
Tess’ Augen füllten sich mit Tränen, und sie schämte sich plötzlich.
Aber wieso sollte ich mich schämen?, fragte sie sich, zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich.
Weil ihr Mann sich in eine andere verliebt hatte? Weil sie ganz egoistisch ein Mittel gefunden hatte, den Schmerz zu betäuben? Weil sie sich in diesem Augenblick danach sehnte, Connor wiederzusehen oder, genauer gesagt, wieder mit ihm zu schlafen, damit seine Zunge, sein Körper, seine Hände die Erinnerungen an Will und Felicity auslöschen würden, die Erinnerung daran, wie sie neben ihr gesessen hatten, der eine links, der andere rechts, und ihr ihr fieses Geheimnis offenbart hatten? Tess erinnerte sich daran, wie sie in Connors Flur auf dem Fußboden gelegen und die Holzdielen im Rücken gespürt hatte. Er hatte sie gefickt, Tess, doch in Wirklichkeit hatte er Will und Felicity gefickt.
Helles, süßes Lachen drang plötzlich an ihr Ohr. Es kam von hübschen, schwatzhaften Müttern, die in der Reihe neben Tess saßen. Mütter, die anständigen ehelichen Sex hatten, mit Ehemännern, im Ehebett. Mütter, denen das Wort »ficken« nicht im Kopf herumspukte, während sie der Ostermützen-Parade ihrer Kinder zuschauten. Tess schämte sich, weil sie sich nicht benahm, wie eine selbstlose Mutter sich benehmen sollte.
Oder vielleicht, weil sie sich tief in ihrem Innern eigentlich gar nicht so sehr schämte.
»Danke euch allen, dass ihr, liebe Mums und Daddys, liebe Großmütter und Großväter, heute dabei wart! Damit ist unsere Ostermützen-Parade zu Ende!«, sagte die Schulleiterin in das Mikrofon. Sie neigte den Kopf zur Seite und schwenkte wie Bugs Bunny eine imaginäre Karotte durch die Luft. »Das war’s für heute, Leute!«
»Was hast du heute Nachmittag noch vor?«, fragte Lucy, als alle applaudierten und lachten.
»Ich muss einkaufen fahren; ich brauche noch ein paar Sachen.« Tess stand auf, reckte sich und sah hinunter zu ihrer Mutter im Rollstuhl. Sie konnte Connors Blicke spüren, die von der anderen Seite des Schulhofes zu ihr herüberwanderten.
Tess hatte immer das Gefühl gehabt, durch die Scheidung ihrer Eltern irgendwie verkorkst zu sein, einen »Schaden« zu haben. Als Kind hatte sie Stunden damit zugebracht, sich vorzustellen, wie viel schöner ihr Leben sein könnte, wenn ihre Eltern zusammengeblieben wären. Sie hätte eine bessere Beziehung zu ihrem Vater gehabt. In den Ferien hätte sie sehr viel mehr Spaß gehabt! Sie wäre nicht so schüchtern gewesen. Alles wäre einfach sehr viel schöner und besser gewesen. Die Wahrheit jedoch war, dass ihre Eltern sich völlig einvernehmlich hatten scheiden lassen und einen recht freundschaftlichen Umgang pflegten. Gewiss, es war schwierig und komisch für Tess gewesen, ihren Vater jedes zweite Wochenende zu besuchen. Aber so schlimm war es auch wieder nicht gewesen. Ehen gingen auseinander. Und Kinder überstanden das. Tess hatte es auch überlebt. Der »Schaden« war nur ein altvertrautes Bild in ihrem Kopf.
Tess winkte Connor zu. Sie brauchte neue Unterwäsche. Und zwar sündhaft teure, die ihr Ehemann nie zu Gesicht bekommen würde.
Cecilia verließ die Ostermützen-Parade und fuhr direkt zum Fitnessstudio. Sie stellte sich aufs Laufband, drehte die Einstellungen für Steigung und Geschwindigkeit auf das Maximum und rannte, als liefe sie um ihr Leben. Sie rannte, bis ihr Herz wie wild pochte, ihre Brust sich schnell hob und senkte und ihre Sicht verschwamm vor lauter Schweiß, der ihr über das Gesicht lief und in den Mund tropfte. Sie rannte, bis es in ihrem Kopf keinen Platz mehr gab für irgendwelche Gedanken. Es war eine wunderbare Befreiung, nicht mehr denken zu müssen, und sie fühlte sich, als könnte sie noch stundenlang weiterrennen, wenn sich nicht einer der Trainer plötzlich und völlig unnötig vor sie hingestellt und gefragt hätte: »Alles
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