Die Wahrheit eines Augenblicks
schließlich davongekommen. Wenn die Polizei nichts unternahm, was wahrscheinlich schien, würde er nie bezahlen für das, was er getan hatte.
Als Rachel noch ein Stück näher kam, erblickte Connor sie, und sein Lächeln verschwand augenblicklich – als wäre das Licht ausgeknipst worden.
Schuldig , dachte Rachel. Schuldig . Schuldig . Schuldig .
»Das hier ist per Eilkurier für dich gekommen«, sagte Lucy, als Tess wieder zu Hause war und ihre Einkäufe auspackte. »Sieht aus, als käme es von deinem Vater. Der verrückte Kerl, schickt etwas per Kurier !«
Neugierig setzte Tess sich neben ihre Mutter an den Küchentisch und wickelte das kleine Päckchen aus, das in einer Luftpolsterfolie steckte. Eine flache, quadratische Dose kam zum Vorschein.
»Der wird dir doch keinen Schmuck geschickt haben?«, sagte ihre Mutter. Gespannt beäugte sie die Dose.
»Es ist ein Kompass«, stellte Tess fest. Es war ein wunderschöner, antiker Holzkompass. »So etwas hat Captain Cook wohl benutzt.«
»Wie eigenartig!«, sagte ihre Mutter schniefend.
Tess hob den Kompass hoch und entdeckte am Boden der Dose einen kleinen, gelben Klebezettel.
»Liebe Tess« , las sie vor. » Für ein Mädchen ist das wahrscheinlich ein etwas dämliches Geschenk. Aber ich weiß ja nie richtig, was ich dir kaufen soll. Ich habe versucht, etwas zu finden, das dir hilft, wenn du dich verloren fühlst. Ich weiß nämlich, wie es ist, wenn man sich verloren fühlt. Es ist absolut schrecklich. Doch ich hatte immer dich. Hoffe, du findest deinen Weg. In Liebe, Daddy .«
Tess spürte, wie sich etwas in ihrer Brust regte.
»Wirklich hübsch«, sagte Lucy, nahm den Kompass und drehte ihn hin und her. Tess stellte sich ihren Vater vor, wie er die Geschäfte abgeklappert hatte, um ein passendes Geschenk für seine erwachsene Tochter zu finden. Und sie konnte den leichten Schrecken förmlich sehen, der in seinem ledrigen, faltigen Gesicht erschienen war, wenn jemand auf ihn zugekommen war und gefragt hatte: » Kann ich Ihnen helfen ?« Kein Zweifel, für die meisten Verkäuferinnen war er ein stoffeliger, grantiger, ruppig alter Mann, der sich jedem Blickkontakt verweigerte.
»Warum habt ihr euch eigentlich getrennt, du und Daddy?«, hatte Tess ihre Mutter so oft gefragt und immer die gleiche saloppe Antwort bekommen: » Oh, mein Liebling, wir waren einfach viel zu verschieden .« Was Lucy meinte, war: Dein Vater war das Problem. (Wenn Tess ihrem Vater die gleiche Frage stellte, zuckte der bloß mit den Schultern und sagte: » Da musst du deine Mutter fragen, mein Liebes .«)
Tess hatte die leise Ahnung, dass auch ihr Vater an einer Sozialphobie leiden könnte. Sie konnte sich noch gut an die Zeit vor der Scheidung erinnern, als sein fehlendes Interesse an gesellschaftlichen Kontakten ihre Mutter regelmäßig zur Weißglut getrieben hatte. »Nie gehen wir irgendwohin!«, hatte sie gesagt, wenn ihr Vater sich mal wieder geweigert hatte, in die Kirche oder auf eine schulische Veranstaltung mitzukommen.
Als Kind konnte Tess beides nachempfinden – die tiefe Enttäuschung ihrer Mutter und die Angst ihres Vaters. Und irgendwie gelangte sie zu der Überzeugung, dass jegliche Form von Scheu falsch war, moralisch falsch. Man müsste doch gern auf Partys gehen wollen. Man müsste doch gern unter Leuten sein wollen.
Kein Wunder, dass sie sich ihrer eigenen Scheu schämte, als wäre es ein peinliches körperliches Leiden, das es um jeden Preis zu verstecken galt.
Sie sah ihre Mutter an. »Wieso bist du nicht einfach allein ausgegangen?«
»Was?« Lucy hob den Blick. »Wohin?«
»Ach, nichts«, meinte Tess und streckte ihr die Hand hin. »Gibst du mir den Kompass wieder? Ich finde ihn ganz toll.«
Cecilia parkte ihr Auto vor Rachel Crowleys Haus und fragte sich, warum sie sich das antat. Sie hätte Rachels Tupperware-Bestellung auch einfach nach Ostern in der Schule abgeben können. Die anderen Gäste auf Marlas Tupper-Party bekamen die bestellte Ware auch erst nach Ostern. Es schien ganz so, als suchte sie den Kontakt zu Rachel und versuchte zugleich, ihn um jeden Preis zu meiden.
Vielleicht wollte Cecilia sie deshalb sehen, weil Rachel die einzige Person auf der Welt war, die alles Recht und alle Autorität hatte, Cecilia in ihrem momentanen Dilemma freiheraus ihre Meinung zu sagen. »Dilemma« – ein viel zu sanftes, viel zu egoistisches Wort. Denn genau genommen implizierte es, dass Cecilias emotionale Befindlichkeiten wichtig waren.
Sie hob die
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