Die Wahrheit eines Augenblicks
Augen baumelte, und sah Rachel mit festem Blick an. »Ich hatte schon etliche Sekretärinnen, die meine Arbeitsweise etwas ungewöhnlich fanden.«
Darauf wette ich , dachte Rachel. »Bei Ihnen stehen eben die Kinder im Vordergrund«, sagte sie laut. »Und ihretwegen sind wir schließlich hier.«
»Ich wünsche Ihnen schöne Osterferien«, meinte Trudy. »Genießen Sie die Zeit mit ihrem zauberhaften kleinen Enkel!«
Rachel nickte. »Das werde ich. Fahren Sie … weg?«
Trudy hatte keinen Mann, keine Kinder und, soweit Rachel wusste, auch keine Interessen außerhalb der Schule. Sie bekam nie irgendwelche privaten Anrufe. Und so konnte sich Rachel nur schwer vorstellen, wie Trudy die Osterferien verbringen würde.
»Ich spanne einfach aus«, sagte Trudy. »Werde viel lesen. Krimis. Ich liebe Krimis. Und rate immer mit, wer wohl der Mörder ist … Oh!« Vor lauter Peinlichkeit stieg ihr eine blasse Röte ins Gesicht.
»Ich mag lieber historische Romane«, erklärte Rachel rasch und vermied den Blickkontakt. Sie nestelte geschäftig an ihrer Tasche, ihrem Mantel und dem Osterkörbchen, ganz so, als schickte sie sich an zu gehen.
»Aha.« Trudy rang sichtlich darum, ihre Fassung wiederzugewinnen. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Die Arme. Sie war erst fünfzig, nicht viel älter, als Janie heute wäre. Doch wegen ihres krausen, grauen Haares wirkte sie sehr viel älter, wie ein betagtes kleines Kind.
»Ist schon gut, Trudy«, meinte Rachel sanft. »Alles gut.«
42
»Hi.« Tess nahm das Telefon ab. Es war Connor. Und ihr Körper reagierte spontan auf seine Stimme – wie ein sabbernder Pawlow’scher Hund.
»Was machst du?«, fragte er.
»Kaufe gerade Karfreitagsbrötchen«, sagte Tess. Sie hatte Liam von der Schule abgeholt und ihn mit zum Einkaufen genommen. Er war plötzlich still und mürrisch und schien gar nicht aufgelegt, über seinen Ostermützen-Preis zu plaudern. Sie hatte eine riesige Einkaufsliste mit Sachen für ihre Mutter dabei, denn Lucy war urplötzlich und in heller Panik eingefallen, dass die Geschäfte am folgenden Tag allesamt geschlossen haben würden.
»Ich liebe Karfreitagsbrötchen«, meinte Connor.
»Ich auch.«
»Wirklich? Wir haben ja vieles gemeinsam.«
Tess lachte. Sie sah, wie Liam neugierig an ihr hochsah, und drehte sich leicht weg, damit er die Röte in ihrem Gesicht nicht sehen konnte.
»Wie auch immer«, sagte Connor. »Ich rufe einfach nur so an. Wollte dir bloß sagen, dass die letzte Nacht wirklich … schön war.« Er hustete. »Und das ist noch eine Untertreibung.«
Oh, mein Gott!, dachte Tess. Sie drückte die Hand auf ihre brennende Wange.
»Ich weiß, für dich ist gerade alles ziemlich kompliziert«, fuhr er fort. »Ich habe … äh, keine Erwartungen, das verspreche ich dir. Ich werde dein Leben nicht noch komplizierter machen. Du sollst wissen, dass ich dich sehr gern wiedersehen würde. Jederzeit.«
»Mum?« Liam zupfte sie am Ärmel. »Ist das Daddy?«
Tess schüttelte den Kopf.
»Wer ist das denn?«, hakte Liam mit großen, ängstlichen Augen nach.
Tess hob das Telefon ein Stück von ihrem Ohr weg und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Ein Kunde.« Und Liam gab sich zufrieden. Er war es gewohnt, dass sie Kundengespräche führte.
Sie löste sich ein paar Schritte aus der Traube der Menschen, die an der Bäckertheke anstanden.
»Ist für mich okay«, versicherte Connor. »Wie gesagt, ich habe wirklich keine …«
»Hast du morgen Abend Zeit?« Tess fiel ihm ins Wort.
»Aber klar doch.«
»Ich komme vorbei, wenn Liam schläft.« Sie presste die Lippen dicht an den Hörer, als wäre sie eine Agentin in geheimer Mission. »Und ich bringe dir Karfreitagsbrötchen mit.«
Rachel ging zu ihrem Auto. Da fiel ihr Blick auf den Mörder ihrer Tochter.
Er telefonierte gerade mit dem Handy und schwang seinen Motorradhelm locker in der Hand. Als sie näher kam, warf er plötzlich den Kopf zurück und blinzelte in die Sonne, als hätte er gerade eine wunderbare Nachricht erhalten. Die Nachmittagssonne blitzte in seiner Sonnenbrille. Er klappte das Handy zu, schob es in seine Jackentasche und lächelte in sich hinein.
Unweigerlich musste Rachel wieder an das Video denken und sah seine Miene vor sich, als er sich zu Janie umdrehte. Sie hatte es wieder klar vor Augen. Das Gesicht eines Monsters: hämisch grinsend, boshaft, grausam.
Und heute? Man sehe sich ihn nur an! Connor Whitby war quicklebendig, quietschfidel. Und warum auch nicht? Er ist
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