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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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gar keinen Fall wollte sie in Laurens Haus einnicken – wie eine alte Dame.
    Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz nach acht Uhr morgens. Der Tag war noch lang, sie hatte noch etliche Stunden zu überstehen, bis er schließlich zu Ende war. Zur gleichen Zeit vor achtundzwanzig Jahren hatte Janie ihr letztes Frühstück eingenommen. Einen halben Vollkornweizenkeks wahrscheinlich. Sie hatte nie gern gefrühstückt.
    Rachel strich mit der flachen Hand über den weichen Stoff des Sofas. »Was werdet ihr denn mit all euren hübschen Möbeln machen, wenn ihr nach New York zieht?«, fragte sie Rob. Sie gab sich gesprächig, gelassen. Ja, sie konnte an Janies Todestag ganz normal über den bevorstehenden Umzug nach New York reden. Oh ja, das konnte sie.
    Rob brauchte eine Weile, bis er antwortete. Er stierte auf seine Knie. Sie wollte ihn gerade noch einmal ansprechen, da sagte er schließlich: »Wir überlegen, das Haus möbliert zu vermieten«, erklärte er, als wäre das Sprechen eine besondere Anstrengung. »Wir sind immer noch dabei, die ganze Logistik auf die Reihe zu kriegen.«
    »Ja, es gibt bestimmt eine Menge zu überlegen, das kann ich mir vorstellen«, sagte Rachel schwungvoll und ein klein wenig bissig. Ja, Rob, es braucht einiges an Logistik, wenn du meinen Enkel mit nach New York nimmst . Sie grub ihre Fingernägel tief in den Stoff des Sofas, als wäre es ein weiches, dickes Tier, das sie malträtieren wollte.
    »Träumst du manchmal von Janie, Mum?«, fragte Rob.
    Rachel sah erschrocken auf und ließ das »Sofatier« los. »Ja«, antwortete sie. »Und du?«
    »Mehr oder weniger. Ich habe Albträume, in denen ich erwürgt werde. Ich schätze, ich träume, dass ich Janie bin. Es ist immer das Gleiche. Ich wache auf und ringe nach Luft. Um diese Jahreszeit sind die Träume besonders schlimm. Lauren dachte, dass es mir vielleicht guttun würde, mit dir zusammen in den Park zu gehen. Um der Tat ins Auge zu blicken. Ich weiß nicht. Es war schwer für mich. Es hat mir nicht gutgetan. Und offensichtlich war es auch schwer für dich. Für mich war es wirklich ein sehr schwerer Gang. Mir vorzustellen, was sie dort durchgemacht hat. Wie viel Angst sie gehabt haben muss. Herrgott.« Er sah an die Decke, und sein Gesicht verspannte sich. Rachel erinnerte sich, wie auch Ed immer krampfhaft gegen seine Tränen angekämpft hatte, genauso wie Rob jetzt.
    Und auch Ed hatte Albträume gehabt. Rachel war oft neben ihm aufgewacht und hatte ihn schreien hören, immer und immer wieder: »Lauf, Janie! Lauf! Um Himmels willen, Liebling, lauf!«
    Diese Träume hatten Rachel das Herz gebrochen. Wäre Janie doch nur gelaufen !
    »Das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du Albträume hast«, sagte Rachel. Was hätte sie dagegen tun können?
    Rob hatte sein Gesicht wieder unter Kontrolle.
    »Sind nur Träume. Nichts weiter. Aber du solltest nicht jedes Jahr allein in den Park gehen, Mum. Es tut mir leid, dass ich nie angeboten habe mitzukommen. Ich hätte es tun sollen.«
    »Das hast du doch, mein Süßer«, erinnerte Rachel ihn. »Weißt du das nicht mehr? Oft sogar. Und jedes Mal habe ich Nein gesagt. Es war mein Ding. Dein Vater meinte, ich wäre verrückt. Er ist kein einziges Mal in diesen Park gegangen. Er hat nicht einmal die Straße benutzt, die daran entlangführt.«
    Rob wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte. »Tut mir leid. Nach all den Jahren musst du denken …« Er brach abrupt ab.
    Aus der Küche hörten sie Jacob zum Soundtrack von Bob, der Baumeister singen. Lauren sang mit. Rob schmunzelte vor sich hin. Der Duft frischer, warmer Karfreitagsbrötchen zog ins Zimmer herein.
    Rachel musterte ihn. Er war ein guter Vater. Ein besserer, als Ed es gewesen war. So war das heute, alle jungen Männer waren bessere Väter. Doch Rob war schon immer ein weichherziger Junge gewesen.
    Als Baby war er herzallerliebst gewesen. Sie erinnerte sich an früher, wie sie ihn aus seinem Kinderbettchen genommen hatte, wenn er ausgeschlafen hatte, wie er sich an ihre Brust geschmiegt und ihren Rücken getätschelt hatte, als wollte er sich bedanken, weil sie ihn aus dem Bettchen gehoben hatte. Er war das goldigste, herzigste Baby von allen gewesen. Sie erinnerte sich, wie Ed immer sagte: »Mein Gott, Frau, du bist ja ganz vernarrt in dieses Kind!«
    Die Erinnerungen an Rob als Baby muteten seltsam an, so als nähme sie ein heiß geliebtes Buch in die Hand, das sie lange nicht mehr gelesen hatte. Viel zu

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