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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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selten schwelgte sie in Erinnerungen an den kleinen Rob. Stattdessen war sie in einem fort damit beschäftigt, immer neue Erinnerungen an Janies Kindheit hervorzukramen, als wären Robs frühe Jahre egal, weil er ja am Leben war.
    »Du warst das schönste Baby von allen, Rob«, sagte sie. »Die Leute haben mich auf der Straße angehalten, um mich zu beglückwünschen. Habe ich dir das nie erzählt? Wahrscheinlich schon Hunderte Male.«
    Rob schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das hast du mir noch nie erzählt, Mum.«
    »Nicht?«, sagte Rachel. »Nicht einmal, als Jacob geboren wurde?«
    »Nein.« In seinem Gesicht stand ein leiser Ausdruck der Verwunderung.
    »Nun, das hätte ich tun sollen.« Rachel seufzte. »Wie so vieles.«
    Rob beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf seine Knie gestützt. »Ich war also zuckersüß, hm?«
    »Du warst prachtvoll«, sagte Rachel. »Und das bist du natürlich auch heute noch.«
    Rob schniefte. »Ja, bestimmt, Mum.« Doch die spontane Freude, die ihm über das Gesicht huschte, konnte er nicht verbergen. Und Rachel biss sich auf die Unterlippe vor lauter Bedauern darüber, dass sie ihn so oft enttäuscht und im Stich gelassen hatte.
    »Warme Karfreitagsbrötchen!« Lauren erschien mit einem Tablett voller perfekt getoasteter und gleichmäßig mit Butter bestrichener Brötchen, das sie vor ihnen abstellte.
    »Warte, ich helfe dir!«, meinte Rachel.
    »Untersteh dich!« Lauren warf ihr einen flüchtigen Blick über die Schulter zu, während sie schon fast wieder auf dem Weg zur Küche war. »Wenn ich bei dir bin, darf ich dir auch nie zur Hand gehen.«
    »Ach.« Rachel fühlte sich in seltsamer Weise bloßgestellt. Sie war immer davon ausgegangen, dass Lauren ihre, Rachels, Geschäftigkeit oder sie als Person an sich nie wirklich zur Kenntnis nahm. Sie empfand ihr Alter als Schutzschild, um sich dahinter vor den Augen der jungen Leute zu verbergen.
    Sie hatte sich stets eingeredet, dass sie sich von Lauren deshalb nicht helfen ließ, weil sie versuchte, die perfekte Schwiegermutter zu sein. In Wahrheit jedoch war es eine prima Möglichkeit, sie auf Distanz zu halten, sie spüren zu lassen, dass sie nicht zur Familie gehörte, und ihr zu vermitteln, dass man sie nicht gern genug mochte, um sie in die eigene Küche zu lassen.
    Da erschien Lauren wieder mit noch einem Tablett, auf dem drei Kaffeebecher standen. Der Kaffee würde perfekt sein, genau so, wie Rachel ihn mochte: heiß, mit zwei Stück Zucker. Lauren war die perfekte Schwiegertochter. Rachel war die perfekte Schwiegermutter. Und all diese Perfektion verbarg die Antipathie.
    Aber Lauren hatte gesiegt. New York war ihr Ass. Und das hatte sie gut ausgespielt. Perfekt gemacht.
    »Wo ist Jacob?«, erkundigte sich Rachel.
    »Er malt.« Lauren setzte sich. Sie hob ihren Kaffeebecher und warf Rob einen schiefen Blick zu. »Hoffentlich malt er nicht die Wände an!«
    Rob grinste, und Rachel erhielt einen weiteren flüchtigen Einblick in die ganz private Ehewelt der beiden. Eine gute Ehe, wie es schien, soweit man das als Außenstehender von einer Ehe sagen konnte.
    Ob Janie Lauren gemocht hätte? Wäre Rachel heute eine nette, ganz normale, überfürsorgliche Schwiegermutter, wenn Janie noch leben würde? Sich vorzustellen, was wäre wenn, war unmöglich. Die Welt heute, in der es Lauren gab, unterschied sich so enorm von der Welt von damals, als Janie noch gelebt hatte. Es schien völlig unmöglich zu sein, sich Lauren vorzustellen, wenn Janie noch leben würde.
    Sie betrachtete ihre Schwiegertochter, die hellen Haarsträhnen, den Pferdeschwanz. Ihr Haar hatte fast die gleiche Farbe wie das von Janie. Janies Haare waren noch ein klein wenig blonder gewesen. Aber vielleicht wären sie mit zunehmendem Alter dunkler geworden.
    Seit jenem ersten Morgen nach Janies Tod, da Rachel aufwachte und der grauenvolle Schrecken dieser Tat mit voller Wucht in ihr Bewusstsein einschlug, hatte sie sich wie besessen ein anderes Leben vorgestellt, ein Leben, das parallel zu ihrem realen Leben ablief – das Leben, das man ihr gestohlen hatte, das, in dem Janie warm und lebendig in ihrem Bett lag.
    Doch das war mit all den Jahren immer schwerer geworden. Lauren saß direkt vor ihr, und sie war so lebendig, das Blut floss durch ihre Adern, ihre Brust hob und senkte sich …
    »Alles klar, Mum?«, fragte Rob.
    »Ja, mir geht es gut.« Rachel langte nach ihrem Kaffeebecher und merkte, dass sie nicht die Energie hatte, ihren Arm zu heben.
    Manchmal

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