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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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spürte sie den reinen, den ursprünglichen Schmerz der Trauer, dann wieder Wut und Zorn, das rasende Verlangen zu kratzen, zu schlagen und zu töten, und manchmal, so wie jetzt, spürte sie eine ganz normale, dumpfe Traurigkeit, die sich weich und erstickend auf sie niederlegte wie ein schwerer Nebel.
    Sie war einfach so verdammt traurig.

49
    »Hallo«, sagte Felicity.
    Tess lächelte ihr zu. Ganz automatisch. Sie war automatisch glücklich, Felicity zu sehen, weil sie ihre Cousine liebte, weil Felicity hübsch aussah, weil sie in den letzten paar Tagen eine Menge erlebt hatte und weil sie Felicity so viel zu erzählen hatte.
    Doch schon im nächsten Moment besann sie sich, und der Schock und der Verrat fühlten sich frisch und neu an. Tess kämpfte gegen den spontanen Wunsch an, auf sie zuzustürmen, sie auf den Boden zu werfen, sie zu kratzen, zu prügeln und zu beißen. Aber nette Frauen der Mittelschicht wie Tess benahmen sich nicht so, insbesondere nicht vor ihren sensiblen, kleinen Kindern. Also leckte sie sich nur die von den gebutterten Karfreitagsbrötchen fettigen Lippen, lehnte sich in ihrem Stuhl vor und zupfte an ihrem Schlafanzugoberteil herum.
    »Was willst du hier?«, sagte sie kühl. Ihr Herz pochte.
    »Es tut mir leid, dass ich einfach …« Felicity versagte die Stimme. Sie versuchte, sich zu räuspern, und schob dann heiser hinterher: »… hier so auftauche. Ohne vorher anzurufen.«
    »Richtig, Felicity, anrufen wäre nicht schlecht gewesen«, sagte Lucy. Tess wusste, ihre Mutter versuchte ihr Bestes, um unfreundlich und abweisend zu wirken, doch ihre Miene war einfach nur verstört. Trotz allem, was geschehen war – sie wusste, dass Lucy ihre Nichte sehr liebte.
    »Was macht dein Knöchel?«, erkundigte sich Felicity.
    »Kommt Daddy auch?«, fragte Liam.
    Tess’ Rücken verkrampfte sich. Felicity fing ihren Blick auf und schaute rasch wieder weg. Genau. Frag Felicity, Liam! Sie wird wissen, was dein Vater so vorhat.
    »Er kommt bald, Liam«, meinte Felicity. »Ich bleibe auch nicht lange. Ich will nur mit deiner Mutter reden, und dann muss ich gleich wieder weg. Genau gesagt, ich verreise.«
    »Wohin?«, wollte Liam wissen.
    »Ich gehe nach England«, antwortete Felicity. »Ich unternehme dort eine tolle Wanderung. Von Küste zu Küste. Und dann gehe ich noch nach Spanien und Amerika … nun, egal. Ich werde eine ganze Weile fort sein.«
    »Gehst du auch nach Disneyland?«, fragte Liam.
    Tess starrte Felicity an. »Ich kapier das nicht.« Geht Will mit ihr auf romantische Abenteuerreise ?
    Auf Felicitys Hals erschienen tiefrote Flecken. »Können wir reden, du und ich?«
    Tess stand auf. »Komm!«
    »Ich komme mit«, rief Liam.
    Tess schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Du bleibst hier bei mir, mein Liebling«, sagte Lucy. »Komm, wir essen ein wenig Schokolade!«
    Tess nahm Felicity mit in ihr altes Kinderzimmer, das als einziges Zimmer in diesem Haus eine abschließbare Tür hatte. Sie standen neben ihrem Bett und sahen einander an. Tess’ Herz pochte. »Was gibt’s?«
    »Es ist vorbei«, sagte Felicity.
    »Vorbei?«
    »Nun, es hat nie wirklich angefangen. Als du und Liam weg wart, da …«
    »Da war es nicht mehr aufregend, was?«
    »Kann ich mich setzen?«, bat Felicity. »Meine Beine zittern.«
    Tess’ Beine zitterten ebenfalls. Sie zuckte mit den Schultern. »Klar. Setz dich.«
    Da es außer dem Bett keine Sitzgelegenheit gab, ließ Felicity sich auf den Boden nieder. Sie saß im Schneidersitz und lehnte sich an die Kommode mit den Schubladen. Tess setzte sich ebenfalls auf den Boden, mit dem Rücken gegen das Bett.
    »Noch der alte Bettvorleger.« Felicity legte ihre Hand auf den blau-weiß gestreiften, kleinen Teppich.
    »Jawohl.« Tess sah auf Felicitys schlanke Beine und zarten Handgelenke. Sie musste an das kleine, dicke Mädchen denken, das als Kind in genau derselben Körperhaltung so viele Male hier gesessen hatte. An ihre wunderschönen, grünen Mandelaugen, die aus dem molligen Gesicht herausstrahlten. Tess hatte immer gewusst, dass in diesem Mädchenkörper eine Märchenprinzessin gefangen war. Aber vielleicht hatte ihr genau das gefallen, dass Felicity gefangen war.
    »Du siehst wunderschön aus«, bemerkte Tess. Aus irgendeinem Grund musste sie das einfach sagen.
    Felicity schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Wollte ich nur loswerden.«
    »Ich weiß.«
    Einige Augenblicke lang saßen sie schweigend beieinander.
    »Also, erzähl!«, meinte Tess schließlich.
    »Er liebt

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