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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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sie tags zuvor noch in der Morgensonne gesessen, warme Karfreitagsbrötchen gegessen und Connor eine SMS geschrieben hatte. Das schien eine halbe Ewigkeit her zu sein.
    Tess setzte sich, legte den Ostereierbeutel auf den Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und vergrub die Hände in den Achselhöhlen.
    »Ist dir kalt?«, fragte Will besorgt.
    »Nicht gerade warm«, blaffte sie ihn an, doch ihr Ton war abgeklärter, und ihre Augen waren wieder trocken. »Aber gut. Sprich ruhig weiter! Bin ganz Ohr.«
    »Du hast recht«, sagte Will. »Es gab nichts auszusetzen an unserer Ehe. Ich war glücklich mit uns. Ich war nur unglücklich mit mir selbst.«
    »Wie? Warum?« Tess hob das Kinn und ging sofort wieder in die Defensive. Wenn er unglücklich war, dann musste das ihre Schuld sein. Lag es an ihrem Essen, ihrer Konversation, ihrem Körper? Irgendetwas entsprach offenbar nicht seinen Erwartungen.
    »Das klingt jetzt lahm«, meinte Will, schaute hinauf in den Himmel und holte tief Luft. »Und soll in keiner Weise eine Entschuldigung sein. Aber vor etwa sechs Monaten, nach meinem vierzigsten Geburtstag, begann ich, mich irgendwie … ausgelaugt zu fühlen. Ein anderes Wort fällt mir dafür nicht ein. Oder leer , das trifft es vielleicht besser.«
    »Leer?«, wiederholte sie.
    »Weißt du noch, wie sehr mir mein Knie zu schaffen machte? Und dann mein Rücken? Ich dachte, Herrgott, geht das jetzt immer so weiter? Ärzte, Pillen, Schmerzen, Wärmewickel? Jetzt schon? Ist das Leben bereits vorbei? So fühlte ich mich, und dann, eines Tages … okay, das ist jetzt peinlich.«
    Er kaute auf seiner Lippe herum und fuhr dann fort. »Ich ging zum Friseur, ließ mir die Haare schneiden, weißt du noch? Mein altes Ich war weg. Aus irgendeinem Grund hob die Friseurin den Spiegel, damit ich meinen Hinterkopf sehen konnte. Warum sie mir den unbedingt zeigen wollte, war mir ein Rätsel. Doch ich schwöre dir, ich bin fast vom Stuhl gekippt, als ich die kahle Stelle entdeckte. Ich dachte, nein, dieser Kopf gehört nicht mir! Ich sah beschissen aus, wie dieser alte fette Bruder Tuck in Robin Hood .«
    Tess schnaubte vor Lachen, und Will schmunzelte reumütig. »Ich weiß«, sagte er. »Ich kam mir plötzlich so … alt vor.«
    »Du bist im besten Alter.«
    »Danke«, antwortete er mit einem betrübten Lächeln um die Lippen. »Ich weiß. Egal. Aber so war mein Gefühl. Leer. Es kam und ging. Keine große Sache. Ich wartete darauf, dass es wieder ganz vorbeigehen würde. Und dann …« Er stockte. An seinem Kinn begann ein Nerv zu zucken.
    »Und dann kam Felicity«, warf Tess ein.
    »Felicity.« Will nickte. »Sie hat mir schon immer viel bedeutet. Du weißt, wie eng wir waren. Wie wir uns immer geneckt haben. Fast geflirtet. Es war nie ernst gemeint. Doch dann, nachdem sie abgenommen hatte, fing ich auf einmal so eine … Schwingung auf, die von ihr kam. Und ich denke mal, das hat mir sehr geschmeichelt. Für mich war nichts groß dabei, denn es war ja Felicity, nicht irgendwer sonst. Alles wirkte unverfänglich. Es fühlte sich nicht so an, als würde ich dich verraten. Es war fast ein bisschen so, als wärst du es. Doch dann entglitt mir alles, und ich …« Er stockte.
    »… und du hast dich in sie verliebt«, sagte Tess.
    »Nein, nicht wirklich. Ich denke nicht, dass ich tatsächlich verliebt war. Es war nichts. In dem Moment, da du mit Liam aus der Tür warst, erkannte ich das. Es war nur eine alberne Schwärmerei, eine …«
    »Hör auf!« Tess hob die Hand, als wollte sie ihm den Mund zuhalten. Sie wollte keine Lügen hören, auch wenn es ehrliche Lügen waren und er sich dieser Lügen nicht einmal bewusst war. Und eigenartigerweise fühlte sie sich auch Felicity loyal verbunden. Wie kam er dazu zu sagen, dass ›nichts‹ zwischen den beiden war, während Felicitys Gefühle so real, so mächtig waren? Will hatte recht. Felicity war nicht irgendwer . Sie war … Felicity.
    »Wieso hast du mir nie von deiner inneren Leere erzählt?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Will. »Weil ich ein Idiot bin. Sich deprimiert zu fühlen wegen einer kahlen Stelle am Hinterkopf … Herrje!« Er zuckte mit den Schultern. Tess war sich nicht sicher, ob es nur an der Beleuchtung lag, aber sein Gesicht schien sich stark gerötet zu haben. »Weil ich nicht wollte, dass du die Achtung vor mir verlierst.«
    Tess legte ihre Hände auf den Tisch und betrachtete sie.
    Ihr fiel ein, dass es zum Job eines guten Werbefachmanns gehörte, dem Kunden

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