Die Wahrheit eines Augenblicks
gar nicht aufhören, davon zu sprechen. »Der Ausdruck auf den Gesichtern der Eltern …«, sagte er zu Tess. »Wenn ich mir vorstelle, dass es Liam gewesen wäre, dass es unser Kind wäre …«
Die schockierende Nachricht von Pollys Unfall hätte für Tess alles andere relativieren müssen, und in gewisser Weise war dem auch so. Würde Liam so etwas passieren, wäre alles andere unwichtig. Gleichzeitig jedoch rückten ihre eigenen Gefühle durch den tragischen Vorfall in den Hintergrund, als wären sie irrelevant, und das machte sie defensiv und aggressiv zugleich.
Sie konnte keine Worte finden, die groß genug gewesen wären, die Tiefe ihrer Emotionen zu beschreiben. Du hast mich verletzt. Du hast mich tief verletzt. Wie konntest du mich so verletzen? In ihrem Kopf war das alles so furchtbar einfach, doch sobald sie den Mund öffnete, wurde es jedes Mal seltsam schwierig. »Ich wette, du säßest jetzt gern mit Felicity im Flieger nach Paris«, sagte sie. Und sie war sich sicher, denn eigentlich wäre sie selbst jetzt gern bei Connor. »Dann flieg doch nach Paris!«
»Paris, Paris. Was hast du denn immer mit Paris?«, fragte Will. »Warum Paris?« In seiner Stimme klang ein leiser Hauch des ganz normalen Will, des Will, den sie liebte und der den alltäglichen Dingen des Lebens immer auch etwas Komisches abgewinnen konnte. »Willst du nach Paris?«
»Nein.«
»Liam liebt Croissants.«
»Nein.«
»Nun, unseren speziellen Brotaufstrich müssten wir natürlich mitnehmen.«
»Ich will nicht nach Paris«, beharrte Tess.
Sie marschierte über den Rasen zum hinteren Zaun, legte ein Ei neben einen Pflock, überlegte es sich dann aber anders, weil sie Sorge hatte wegen der Spinnen.
»Ich sollte deiner Mutter morgen den Rasen mähen«, bemerkte Will vom anderen Ende des Gartens.
»Ein Junge aus der Nachbarschaft erledigt das alle zwei Wochen.«
»Okay.«
»Ich weiß, dass du nur wegen Liam hier bist«, sagte Tess.
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Sie hatte es ihm schon einmal gesagt, vergangene Nacht im Bett und dann noch einmal, als sie heute spazieren gewesen waren. Sie wiederholte sich. Sie benahm sich wie eine nervige Zimtzicke, so, als wollte sie ihn dazu bewegen, seinen Entschluss zu bereuen. Wieso musste sie ständig darauf herumhacken? Sie war scheinheilig. Schließlich wusste sie ganz genau, dass sie jetzt in diesem Augenblick mit Connor im Bett wäre, wenn Liam nicht wäre. Sie hätte sich gar nicht erst bemüht, ihre Ehe zu kitten. Sie hätte sich flugs in etwas Neues gestürzt, das einfach, frisch und köstlich war.
»Ich bin wegen Liam hier«, sagte Will. »Und ich bin deinetwegen hier. Du und Liam, ihr seid meine Familie. Ihr bedeutet mir alles.«
»Wenn wir dir alles bedeuten, dann hättest du dich gar nicht erst in Felicity verliebt«, entgegnete Tess. Es war so leicht, das Opfer zu spielen. Die beschuldigenden Worte flossen ihr leicht und glatt von der Zunge.
Weniger leicht und glatt wären sie geflossen, wenn sie ihm erzählt hätte, was sie mit Connor angestellt hatte, während Will und Felicity heroisch der Versuchung widerstanden hatten. Tess ging davon aus, dass ihn das verletzen würde, und sie wollte ihn verletzen. Ihr Erlebnis mit Connor war wie eine Geheimwaffe, die verborgen in ihrer Tasche steckte, die sie befühlen und streicheln konnte, die ihr Macht verlieh.
Erzähl ihm nichts von Connor! , hatte ihre Mutter ihr eindringlich ins Ohr geflüstert, als Will im Taxi vorgefahren und Liam aus dem Haus gerannt war, um ihn zu begrüßen. Das wird ihn nur unnötig verärgern. Das bringt nichts. Ehrlichkeit wird überbewertet. Lass dir das gesagt sein !
Und das aus dem Mund ihrer Mutter! Sprach sie aus eigener Erfahrung? Irgendwann würde Tess sie einmal danach fragen. Aber nicht jetzt. Jetzt wollte sie es gar nicht wissen. Es kümmerte sie nicht einmal.
»Ich habe mich nicht wirklich in Felicity verliebt«, sagte Will.
»Doch, hast du«, widersprach Tess, obgleich ihr das Wörtchen verliebt plötzlich kindisch und albern vorkam, als wären Will und sie zu alt, um solche Wörter im Mund zu führen. Wenn man jung ist, spricht man vom »Verliebtsein« mit einem so spielerischen Ernst, als wäre es ein Ist-Zustand auf ewige Zeiten. Dabei war es in Wirklichkeit etwas anderes. Chemie. Hormone. Ein biologischer Trick. Sie hätte sich genauso gut in Connor verlieben können. Leicht sogar. Sich zu verlieben war leicht. Schwierig war nur, verliebt zu bleiben.
Sie könnte ihre
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