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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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überhaupt um irgendetwas zu bitten. Aber, sehen Sie, Polly braucht uns jetzt beide, geben Sie mir einfach Zeit …«
    »Ich werde Sie Ihrer Tochter nicht wegnehmen.« Rachel schnitt ihm das Wort ab. Sie klang derart barsch und zornig, als wären Cecilia und John-Paul zwei unerzogene Teenager. »Ich habe bereits …« Sie stockte, schluckte und sah an die Decke, als müsste sie gegen ein Übelkeitsgefühl ankämpfen. Dann scheuchte sie beide davon. »Geht! Geht zu eurer kleinen Tochter! Los, alle beide!«

54
    Es war Ostersamstag. Spätabends. Will und Tess versteckten Ostereier im Garten hinter Lucys Haus. In der Hand hielten sie jeder einen Beutel mit kleinen Schokoladeneiern, die in bunte Glanzfolie eingewickelt waren.
    Als Liam klein gewesen war, hatten sie die Eier in Sichtweite versteckt oder sie einfach verstreut ins Gras gelegt. Aber als Liam älter wurde, freute er sich an einer wilden Osterjagd mit Tess zur Filmmusik von Mission Impossible , während Will mit der Stoppuhr seine Zeit maß.
    »Meinst du, wir können ein paar davon in der Regenrinne verstecken?« Will schaute zum Dach hinauf. »Wir könnten ja eine Leiter bereitstellen.«
    Tess ließ ein leises Lachen vernehmen, so, wie man mit einem flüchtigen Bekannten oder einem Kunden lachte.
    »Ach, besser nicht«, sagte Will. Er seufzte und legte ein blaues Ei in die Ecke einer Fensterbank, das Liam nur entdecken würde, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte.
    Tess wickelte ein Osterei aus und schob es sich in den Mund. Zu viel Schokolade war das Letzte, was Liam brauchte. Die schokoladige Süße zerfloss in ihrem Mund. Sie hatte in dieser Woche jede Menge Schokolade gefuttert. Wenn sie sich nicht zügelte, würde sie bald so dick sein wie Felicity. Wie Felicity früher , korrigierte sie sich.
    Dieser beiläufige, gemeine Gedanke war ihr ganz automatisch in den Sinn gekommen wie eine alte Liedzeile, und sie erkannte, dass sie ihn schon viele Male gedacht haben musste. »So dick wie Felicity« war nach wie vor ihre Definition von »unmöglich fett«, selbst jetzt, da Felicity eine schlanke, supertolle Figur hatte, die schöner war als ihre eigene.
    »Ich kann nicht glauben, dass du wirklich dachtest, wir könnten alle drei zusammen unter einem Dach leben!«, brach es plötzlich aus Tess heraus. Sie sah, wie Wills Haltung sich unwillkürlich versteifte.
    Genau so hatte er tags zuvor bei ihrer Mutter vor der Haustür gestanden, blass und sichtlich dünner, als Tess ihn zuletzt gesehen hatte. Ihre Stimmung schwankte stark. In der einen Minute war sie kühl und sarkastisch, in der nächsten hysterisch und weinerlich. Es schien ihr nicht zu gelingen, sich zusammenzunehmen.
    Will drehte sich zu ihr um, den Beutel mit den Schokoladeneiern in der Hand. »Das habe ich nicht wirklich gedacht.«
    »Aber gesagt! Am Montag hast du das gesagt.«
    »Das war Quatsch. Tut mir leid«, murmelte er. »Ich kann nur immer wieder betonen, wie unendlich leid es mir tut.«
    »Du klingst wie ein Roboter«, schnaubte Tess. »Du meinst es ja nicht einmal mehr ernst. Du leierst es herunter, damit ich endlich still bin«, sagte sie und äffte ihn mit monotoner Stimme nach: »Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid.«
    »Tut es mir auch«, erwiderte Will matt.
    »Schsch!«, machte Tess, obwohl er gar nicht allzu laut gesprochen hatte. »Du weckst alle auf.« Liam und ihre Mutter schliefen beide schon. Ihre Zimmer gingen nicht nach hinten zum Garten hin, sondern nach vorne, und beide hatten einen tiefen Schlaf. Insofern würden sie wohl kaum aufwachen, selbst wenn Tess und Will einen lauten Streit anfangen und einander anschreien würden.
    Doch so weit war es nicht. Noch nicht. Die Worte flogen bloß sinnlos hin und her und verloren sich in irgendwelchen Sackgassen.
    Ihr Wiedersehen am Tag zuvor war surreal und banal zugleich gewesen, ein aufreibender Zusammenprall der Personen und Emotionen. Zum einen war da Liam, der vor lauter Aufregung völlig außer Rand und Band gewesen war, so, als hätte er intuitiv gespürt, dass er seinen Vater und die sicheren Strukturen seiner kleinen Welt zu verlieren drohte. Und nun, da Will wieder da war, spielte er vor Erleichterung darüber völlig verrückt. Er sprach mit verstellter, nerviger Stimme, krakeelte wie wahnsinnig, sprang auf Will herum und wollte in einem fort mit ihm ringen und tollen. Und dann gab es Will, der noch völlig traumatisiert war, da er soeben den Unfall der kleinen Polly Fitzpatrick hautnah miterlebt hatte. Er konnte

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