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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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rationale Argumente für seine irrationalen Käufe zu liefern. Hatte sich Will ernsthaft mit der »Felicity-Geschichte« auseinandergesetzt und sich die Frage gestellt, warum das alles passiert war? Oder hatte er sich lediglich eine Geschichte zurechtgebastelt, die sich doch sehr frei an der Wahrheit orientierte?
    »Wie auch immer. Ich leide unter einer Sozialphobie«, sagte Tess unvermittelt.
    »Wie bitte?« Will runzelte die Stirn, irritiert über den abrupten Themenwechsel.
    »Ich habe eine übertriebene Angst vor bestimmten sozialen Aktivitäten. Nicht vor allen, nur vor einigen. Keine große Sache. Aber manchmal überkommt es mich.«
    Will legte die Fingerspitzen an die Stirn. Er wirkte immer noch verwirrt, fast besorgt. »Ich weiß, dass du nicht gern auf Partys gehst, doch ich für meinen Teil bin auch nicht sonderlich scharf darauf, auf Partys herumzustehen und Smalltalk zu halten.«
    »Die Quizabende an der Schule bereiten mir förmlich Herzrasen«, gestand Tess. Sie blickte ihm direkt in die Augen; sie fühlte sich nackt. Noch nie im Leben hatte sie sich vor ihm so nackt gefühlt.
    »Auf die Quizabende gehen wir ohnehin nie.«
    »Ich weiß. Eben darum.«
    Will hob die Hände. »Wir müssen ja nicht hingehen! Mir ist das egal!«
    Tess lächelte. »Aber mir macht es schon etwas aus. Wer weiß? Vielleicht ist es ja ganz lustig. Vielleicht auch langweilig. Ich weiß es nicht. Ich meine ja bloß. Ich möchte anfangen, ein bisschen … offener durch mein Leben zu gehen.«
    »Verstehe ich nicht«, sagte Will. »Ich weiß, du bist nicht gerade extrovertiert, aber du gehst doch unter Leute und ziehst Kunden an Land! Mir jedenfalls würde das schwerfallen!«
    Tess nickte. »Ich weiß. Doch ich sterbe fast dabei. Jedes Mal. Ich hasse es, und ich liebe es. Mir ist richtig schlecht vor Angst. Und ich wünsche mir, dass diese Angst endlich nachlässt.«
    »Aber …«
    »Neulich habe ich einen Artikel gelesen. Es gibt Tausende Menschen, die mit kleinen geheimen Neurosen durch die Gegend laufen. Auch Menschen, von denen man das nie denken würde: Firmenbosse, die ihren Aktionären große Präsentationen boten, jedoch unfähig sind, auf einer Weihnachtsfeier Smalltalk zu halten; Schauspieler mit einer lähmenden Schüchternheit; Ärzte, die entsetzliche Angst vor direktem Blickkontakt haben. Ich hatte das Gefühl, diese Angst vor aller Welt verstecken zu müssen, und je mehr ich sie versteckte, desto größer schien sie zu werden. Ich habe heute Felicity davon erzählt. Doch sie hat es nur abgetan. Dann spring eben über deinen Schatten !, meinte sie nur. Das aus ihrem Mund zu hören war trotzdem auf seltsame Weise befreiend. Es war, als hätte ich schließlich und endlich die große, haarige Spinne aus ihrer Schachtel genommen und sie jemandem vor die Nase gehalten, um dann zu hören zu kriegen: Das ist doch gar keine Spinne! «
    »Ich will deine Angst nicht abtun«, sagte Will. »Ich will deine Spinne zerquetschen. Ich will dieses verdammte Ding töten.«
    Tess spürte, wie ihre Augen sich erneut mit Tränen füllten. »Ich will dein ›leeres‹ Gefühl auch nicht einfach abtun.«
    Will langte über den Tisch und streckte ihr die flache Hand entgegen. Sie betrachtete sie kurz und legte dann ihre Hand in die seine. Die plötzliche Wärme seiner Finger, die vertraut und fremd zugleich war, die Art, wie er die ihren umschloss, erinnerte sie an ihre erste Begegnung. Damals, im Foyer der Firma, in der Tess gearbeitet hatte. Ihre übliche Angst, neue Menschen kennenzulernen, war einfach hinweggeschmolzen bei der gewaltigen Anziehungskraft, die von diesem Mann mit dem heiteren Grinsen und den lachenden, offenen goldbraunen Augen ausgegangen war.
    Schweigend saßen sie beieinander, hielten sich an den Händen, sahen einander jedoch nicht an. Tess musste daran denken, wie Felicitys Blick geflattert hatte, als sie sie gefragt hatte, ob sie und Will auf dem Flug hierher Händchen gehalten hätten. Bei diesem Gedanken hätte Tess ihre Hand fast wieder zurückgezogen. Doch dann dachte sie an Connor, daran, wie sie mit ihm vor der Kneipe gestanden und er mit dem Daumen sanft über ihre Hand gestrichen hatte. Und aus irgendeinem Grund musste sie auch an Cecilia Fitzpatrick denken, die in diesem Augenblick in einem Krankenzimmer am Bett der armen, kleinen, wunderhübschen Polly saß. Und an Liam, der in seinem blauen Flanellschlafanzug friedlich in seinem Bett schlief und von Schokoladen-Ostereiern träumte. Tess sah hinauf in den

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