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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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sternklaren Nachthimmel und stellte sich vor, wie Felicity in diesem Moment im Flieger saß, irgendwo dort oben, hoch über ihnen, wie sie in einen anderen Tag flog, in eine andere Zeit, in ein anderes Leben, wie sie einen Film ansah, ein Buch las und sich die ganze Zeit wohl fragte, wie um alles in der Welt es so weit hatte kommen können.
    Doch jetzt mussten so viele Entscheidungen getroffen werden. Wie sollten sie den nächsten Abschnitt ihres Lebens bloß bewältigen? Würden sie in Sydney bleiben? Und würde Liam die St.-Angela-Schule weiterhin besuchen? Nein, unmöglich. Dann würde sie Connor jeden Tag sehen. Und wie sollte es mit der Firma weitergehen? Würden sie Felicity ersetzen können? Auch das schien unmöglich. Im Grunde schien alles unmöglich. Unüberwindlich.
    Was, wenn Will und Felicity füreinander bestimmt waren? Was, wenn sie und Connor füreinander bestimmt waren? Vielleicht gab es auf Fragen wie diese keine Antwort. Vielleicht gab es gar kein Füreinander-bestimmt-Sein. Das Leben war hier, im Hier und Jetzt, und jeder musste sein Bestes geben.
    Das Licht auf der Veranda begann zu flackern, und plötzlich saßen sie im Dunkeln. Keiner von ihnen rührte sich.
    »Wir warten bis Weihnachten«, sagte Tess nach einer Weile. »Wenn du sie bis dahin noch immer vermisst, sie noch immer willst, dann solltest du zu ihr gehen.«
    »Sag so etwas nicht! Ich habe es dir doch erklärt. Ich will nicht …«
    »Schsch.« Sie schloss ihre Hand fester um die seine. Und so saßen sie im Mondschein da und klammerten sich an die Trümmerteile ihrer Ehe.

55
    Geschafft.
    Cecilia und John-Paul saßen Seite an Seite und sahen zu, wie Pollys Augenlider zuckten und sich wieder entspannten – wie im Traumschlaf.
    Cecilia hielt Pollys linke Hand und versuchte, die Tränen zu ignorieren, die ihr über die Wangen rollten und vom Kinn tropften. Sie musste daran denken, wie sie einst mit John-Paul in einem anderen Krankenhaus gewesen war, an einem anderen Herbsttag bei Morgenanbruch, nach zwei Stunden heftiger Geburtswehen (Cecilia gebar leicht; fast ein bisschen zu leicht für das dritte Kind). John-Paul und sie hatten Pollys Finger und Zehen gezählt, wie sie es zuvor auch bei Isabel und Esther getan hatten, ein Ritual so wie das Auspacken und Begutachten eines wundervollen, magischen Geschenks.
    Jetzt wanderten ihre Augen ständig zu der Stelle, wo Pollys rechter Arm sein sollte. Es war eine Anomalie. Eine Sonderbarkeit. Eine optische Unstimmigkeit. Von jetzt an würde es nicht mehr Pollys Schönheit sein, derentwegen die Leute im Einkaufszentrum sich nach ihr umdrehten. Cecilia ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie musste weinen, bis alle Tränen geweint waren, weil sie fest entschlossen war, dass Polly sie niemals weinen sehen sollte. Sie war im Begriff, in ein neues Leben zu treten; in ein Leben als Mutter eines armamputierten Kindes. Selbst während sie weinte, konnte sie spüren, wie sich ihre Muskeln anspannten, als wäre sie eine Athletin kurz vor dem Marathonlauf. Bald schon würde sie eine neue Sprache fließend beherrschen, nämlich die der Stümpfe und Prothesen und weiß Gott was noch. Sie würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, Muffins backen und unehrliche Komplimente machen, um ihrer Tochter das Leben so schön wie möglich zu bereiten. Und niemand war für diese Rolle besser geeignet als Cecilia.
    Aber war Polly dafür geeignet? Das war die Frage. Konnte ein sechsjähriges Kind überhaupt für so etwas geeignet sein? War ihr Charakter stark genug, um mit dieser Art von Beeinträchtigung in einer Welt zu leben, die so viel Wert legte auf das Aussehen eines Menschen? Sie ist trotzdem wunderschön, dachte Cecilia wütend, als hätte es irgendjemand in Abrede gestellt.
    »Sie ist taff«, sagte sie zu John-Paul. »Erinnerst du dich noch an den Tag am Pool, als sie allen beweisen wollte, dass sie genauso viele Bahnen schwimmen kann wie Esther?« Sie dachte an Pollys Arme, die durch das sonnenhelle, chlorblaue Wasser schnitten.
    »Herrje. Schwimmen .« John-Pauls ganzer Körper hob sich, und er drückte die flache Hand in die Mitte seiner Brust, als erlitte er gerade einen Herzanfall.
    »Fall jetzt bloß nicht tot um!«, sagte Cecilia spitz.
    Sie drückte ihre Handballen tief in die Augenhöhlen und ließ sie langsam kreisen. Die Tränen schmeckten in ihrem Mund salzig, als bildeten sie ein kleines salziges Meer, das es zu durchschwimmen galt.
    »Warum hast du es Rachel erzählt?«, fragte John-Paul. »Warum

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