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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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Es war John-Pauls Mutter. Cecilia blinzelte leicht verwirrt.
    »Warst du gerade im Bad?«, fragte Virginia. »Ich dachte schon, ich müsste mich auf die Stufen setzen. Meine Beine wurden ganz schwach.«
    Virginia verstand sich hervorragend darauf, allen immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen zu machen. Sie hatte fünf Söhne und fünf Schwiegertöchter. Und Cecilia war die einzige Schwiegertochter, an der Virginias Sticheleien abprallten und die bisher kein einziges Mal in Tränen, Wut oder Verzweiflung ausgebrochen war. Das lag an Cecilias unerschütterlichem Selbstvertrauen in ihre Qualitäten als Ehefrau, Mutter und Hausfrau. Bitte schön, versuch’s doch mal , Virginia!, hatte sie so manches Mal gedacht, wenn ihre Schwiegermutter alles und jeden mit kritischen Blicken beäugte, angefangen bei John-Pauls knitterfreien Hemden bis hin zu Cecilias staubfreien Sockelleisten.
    Virginia schaute immer mittwochs nach ihrem Tai-Chi-Kurs auf eine Tasse Tee oder Kaffee mit frisch gebackenen Plätzchen bei Cecilia vorbei. »Wie hältst du das bloß aus?«, jammerten ihre vier Schwägerinnen, doch Cecilia hatte eigentlich gar nichts dagegen. Für sie war es, als würde sie zu einem wöchentlichen Kampf mit einem unwägbaren Gegner antreten, den sie nach ihrem Empfinden in aller Regel auch gewann.
    Heute nicht. Heute hatte sie nicht die Kraft dazu.
    »Was riecht denn hier so?«, fragte Virginia, als sie ihr eine Wange hinstreckte, um sich ein Küsschen abzuholen. »Ist das Sesamöl?«
    »Ja.« Cecilia schnüffelte an ihren Händen. »Komm rein, setz dich! Ich stelle Wasser auf.«
    »Den Geruch von Sesam mag ich gar nicht«, sagte Virginia. »Riecht immer so asiatisch, findest du nicht?« Sie nahm am Tisch Platz und blickte sich sogleich nach Schmutz oder sonstigen Verfehlungen um. »Wie ging es denn John-Paul letzte Nacht? Er rief heute Morgen an. Schön, dass er früher als erwartet zurückgekommen ist. Die Mädchen müssen sich gefreut haben. Die drei sind ja richtige Daddy-Kinder, stimmt’s? Aber ich konnte gar nicht glauben, dass er gleich so früh wieder ins Büro musste nach seinem langen Flug heute Nacht. Er muss doch einen fürchterlichen Jetlag haben, der Arme.«
    Eigentlich hatte John-Paul den Tag zu Hause verbringen wollen. »Ich will dich jetzt nicht allein damit lassen«, hatte er gesagt. »Ich gehe heute nicht ins Büro. Dann können wir reden. Wir können weiterreden.«
    Weiterreden. Cecilia hätte sich nichts Schlimmeres vorstellen können. Sie hatte darauf bestanden, dass er zur Arbeit ging, hatte ihn regelrecht aus der Tür geschoben. Sie brauchte Abstand, musste nachdenken. Den ganzen Morgen hatte er sie angerufen und verzweifelt klingende Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Hatte er Angst, dass sie eine Aussage bei der Polizei machen würde?
    »John-Paul hat eine gute Arbeitsmoral«, sagte ihre Schwiegermutter, als Cecilia den Kaffee aufbrühte.
    Wenn du wüsstest, was dein herzallerliebster Sohn getan hat! Wenn du wüsstest!
    Cecilia spürte, wie Virginia sie eingehend musterte. Und ihre Schwiegermutter war nicht blöd. Genau das war der Fehler, den Cecilias Schwägerinnen machten. Sie unterschätzten den Feind.
    »Du siehst nicht gut aus«, stellte Virginia fest. »Ausgelaugt. Bist du erschöpft? Du lädst dir zu viel auf. Habe gehört, du hast gestern Abend eine Tupper-Party gemacht? Hat mir Marla Evans im Tai-Chi-Kurs gerade erzählt, und sie sagte, es sei ein voller Erfolg gewesen. Am Ende seien alle ein bisschen beschwipst gewesen. Und du hast Rachel Crowley nach Hause gefahren? Stimmt das?«
    »Rachel ist sehr nett«, erwiderte Cecilia. Sie stellte Virginia einen Becher Kaffee und ein paar selbst gebackene Plätzchen hin. (Kekse waren die Schwäche ihrer Schwiegermutter, was Cecilia einen Vorteil verschaffte.) Hoffentlich stand sie es durch, mit Virginia zu sprechen, ohne dass ihr wieder schlecht wurde. »Ich habe sie zu Pollys Piratenparty nächste Woche eingeladen.«
    Eine ganz wunderbare Idee.
    »Ach, wirklich?«, sagte Virginia und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: »Weiß John-Paul davon?«
    »Ja.« Cecilia nickte. »Ja, weiß er.« Komisch, dass Virginia diese Frage stellte. Sie wusste doch ganz genau, dass John-Paul sich in die Organisation der Kindergeburtstagpartys nie groß einbrachte. Cecilia stellte die Milch zurück in den Kühlschrank, drehte sich um und sah Virginia an.
    »Warum fragst du?«
    Virginia nahm ein Kokosplätzchen. »Und er hat nichts

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