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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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aufgeschrieben, was er ihr sagen wollte. »Also ist alles in den besten Händen.«
    »Schön«, meinte Rachel. »Immerhin ein Anfang! Dann wird man den Fall wieder aufrollen!«
    »Nun, Mrs. Crowley, die Sache ist die, dass Janies Fall nicht abgeschlossen ist. Insofern ist er immer noch offen. Wenn der Gerichtsmediziner den Fall mit einem offenen Befund zurückgibt, wie das bei Janie der Fall war, wie Sie wissen … dann wird die Akte nicht geschlossen. Will heißen, die Jungs werden sich das Band ansehen. Auf jeden Fall.«
    »Und sie werden Connor noch einmal befragen.« Rachel drückte den Hörer fest an ihr Ohr.
    »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Rodney. »Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon, Mrs. Crowley! Bitte.«
    Die Enttäuschung traf sie tief, als hätte man ihr soeben erklärt, sie sei in der Prüfung durchgefallen. Sie war nicht gut genug gewesen. Sie hatte versagt und ihrer Tochter nicht helfen können. Sie hatte sie abermals enttäuscht.
    »Aber sehen Sie, das ist nur meine persönliche Meinung. Die Jungs, die heute am Zug sind, sind jünger und schlauer als ich. Ein Kollege vom Morddezernat ruft Sie diese Woche an und gibt Ihnen Bescheid, wie sie die Sache einschätzen.«
    Rachel legte auf. Es flimmerte vor ihren Augen, als sie wieder auf den Computerbildschirm sah. Sie hatte den ganzen Tag schon so etwas wie hoffnungsfrohe Zuversicht verspürt, als würde das Auffinden des Videos eine ganze Reihe von Ereignissen in Bewegung setzen und etwas Wunderbares erbringen, beinahe so, als würde es ihr Janie zurückbringen. Ein kindlicher Teil in ihrer Seele hatte nie akzeptiert, dass all das wirklich hatte geschehen können, dass ihre Tochter tatsächlich ermordet worden war. Ganz bestimmt würde sich irgendeine ehrbare Autorität eines Tages der Sache annehmen und alles aufklären. Vielleicht war ja Gott diese verständige, ehrbare Autorität, von der sie immer geglaubt hatte, sie würde einschreiten. Konnte sie wirklich so verblendet gewesen sein? Und wenn nur unbewusst?
    Gott war das alles egal. Es interessierte ihn herzlich wenig. Gott hat Connor Whitby einen freien Willen gegeben, und Connor hatte diesen freien Willen genutzt, um Janie zu erwürgen.
    Rachel schob ihren Stuhl vom Schreibtisch weg und sah hinaus auf den Schulhof. Von hier oben konnte sie aus der Vogelperspektive alles sehen, was draußen vor sich ging. Es war kurz vor Schulschluss. Abholzeit. Eltern hatten sich schon verstreut auf dem Schulgelände eingefunden: Mütter standen in kleinen Gruppen plaudernd zusammen; vereinzelt waren auch Väter zu sehen, die sich etwas abseits hielten und E-Mails auf dem Handy checkten. Einer der Väter trat rasch einen Schritt zur Seite, um einem Rollstuhl Platz zu machen. Darin saß Lucy O’Leary. Sie wurde von ihrer Tochter geschoben. Tess beugte sich zu ihrer Mutter hinunter, um sie besser verstehen zu können, und warf dann lachend den Kopf zurück. Irgendwie hatten die beiden etwas leicht Rebellisches an sich.
    Als Mutter konnte man seiner erwachsenen Tochter eine gute Freundin sein, und zwar auf eine Weise, wie es mit einem erwachsenen Sohn nicht möglich schien. Und das hatte Connor ihr genommen: all die künftigen Beziehungen, die Rachel und Janie hätten haben können.
    Ich bin nicht die erste Mutter, die ein Kind verliert, hatte Rachel sich im ersten Jahr nach Janies Tod immer und immer wieder gesagt. Ich bin nicht die erste. Und ich werde nicht die letzte sein .
    Doch es machte keinen Unterschied.
    Es klingelte. Schulschluss. Sekunden später stürmten die Kinder aus ihren Klassenzimmern. Ein vertrautes kindliches Stimmengewirr klang an ihr Ohr: Lachen, Rufen. Schreien. Rachel sah den kleinen Curtis-Jungen zum Rollstuhl seiner Großmutter laufen. Er stolperte beinahe, da er mit beiden Händen etwas ungelenk ein riesiges Monstrum aus Pappe und Alu-Folie vor sich hertrug. Tess beugte sich neben dem Rollstuhl zu ihm hinunter, und alle drei inspizierten dieses monströse Etwas, was auch immer es darstellen sollte – ein Raumschiff vielleicht? Es war zweifelsohne Trudy Applebees Werk. Lehrplan ade. Wenn Trudy beschloss, die ersten und zweiten Klassen bastelten heute Raumschiffe, dann bastelten sie auch Raumschiffe. Lauren und Rob würden künftig in New York leben. Jacob würde einen amerikanischen Akzent bekommen. Und zum Frühstück Pfannkuchen essen. Rachel würde ihn nie mehr sehen, wie er mit irgendeinem Bastelwerk aus Pappe und Alu-Folie aus der Schule rannte. Die Polizei

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