Die Wahrheit eines Augenblicks
Sportplatz«, sagte sie matt.
»Gut, dann trinke ich noch einen Tee mit dir«, entschied Tess. Sie nahm ungeniert eine ungeöffnete, teuer aussehende Packung Schokoladenkekse aus Cecilias Vorratsschrank und empfand eine fast kindliche Freude über ihr keckes Auftreten. Ja, so schön kann das Leben sein. »Einen Keks dazu?«
26
Cecilia sah zu, wie Tess ihre Teetasse an den Mund führte (sie hatte die falschen Becher genommen – Cecilia benutzte diese Becher nie für Gäste) und sie über den Rand hinweg anlächelte. Sie konnte nicht ahnen, welch schrecklicher Monolog still und stumm durch Cecilias Kopf ratterte.
Willst du wissen, was ich letzte Nacht herausgefunden habe, Tess? Mein Mann hat Janie Crowley ermordet. Ja, ich weiß! Oh Mann, der helle Wahnsinn! Ja, genau, die Tochter von Rachel Crowley, der netten, weißhaarigen Dame, die uns heute Morgen über den Weg gelaufen ist, die mich freundlich und mit einem Lächeln angesehen hat. Jawohl! Wenn ich ehrlich bin, sitze ich ganz schön in der Patsche, Tess, wie meine Mutter sagen würde. So richtig in der Patsche.
Wie würde Tess wohl reagieren, wenn sie, Cecilia, nur eins dieser Worte laut aussprechen würde? Sie hielt Tess bislang für eine rätselhafte, selbstsichere Frau, die es nicht nötig hatte, Redepausen mit leerem Gerede zu füllen. Aber jetzt überlegte sie, ob Tess vielleicht nur schüchtern war. Andererseits hielt sie Cecilias Blicken stand, saß aufrecht und gerade wie ein Kind, das sich im Hause anderer Leute zu benehmen wusste.
Sie war wirklich sehr nett, sie hatte sie nach diesem fürchterlichen Vorfall am Bordstein sogar nach Hause gefahren. Würde sie, Cecilia, sich nun jedes Mal übergeben müssen, wenn sie auf Rachel Crowley traf? Denn das könnte zu einem echten Problem werden.
Tess neigte den Kopf, um eins der Bücher über die Berliner Mauer zu betrachten. »Ich habe immer gern Geschichten über Fluchtversuche gelesen.«
»Ich auch«, sagte Cecilia. »Die über erfolgreiche vor allem.« Sie schlug eins der Bücher auf und blätterte zum Fototeil in der Mitte. »Siehst du diese Familie?« Sie tippte auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das einen jungen Mann mit Frau und vier kleinen, schmuddeligen Kindern zeigte. »Dieser Mann hat einen Zug gekapert. ›Kanonenkugel-Harry‹ nannten sie ihn. Er hat den Zug mit vollem Tempo über alle möglichen Grenzen gefahren. Der Schaffner sagte: ›Bist du verrückt, Kamerad?‹ Sie mussten alle unter den Sitzen Schutz suchen, damit sie nicht erschossen wurden. Kannst du dir vorstellen, wie das war? Nicht für ihn, für sie? Für die Mutter der Kinder? Ich denke immer wieder darüber nach. Vier Kinder auf dem Boden im Zug. Im Kugelhagel. Sie hat ein Märchen erfunden, das sie ihren Kindern erzählte, um sie abzulenken. Das habe sie zuvor noch niemals gemacht, berichtete sie später. Ich selbst habe mir auch noch nie ein Märchen für meine Kinder ausgedacht. Bin nicht so kreativ. Du machst das bestimmt für deine Kinder, oder?«
Tess wirkte überrascht. »Ja, manchmal schon.«
Ich rede zu viel, dachte Cecilia bei sich und bemerkte, dass sie gerade ›deine Kinder‹ gesagt hatte. Dabei hatte Tess doch nur einen Sohn. Ob sie sich korrigieren sollte? Aber was, wenn Tess unbedingt weitere Kinder wollte, doch aus irgendeinem Grund keine mehr bekommen konnte?
Cecilia drehte das Buch so, dass Tess die Fotos gut sehen konnte. »Ich schätze mal, daran kann man sehen, was Menschen bereit sind, für die Freiheit zu tun, die wir heute als selbstverständlich nehmen.«
»Ich glaube, wenn ich seine Frau gewesen wäre, hätte ich Nein zur Flucht gesagt.« Cecilia klang überaus erregt, so, als hätte sie wirklich zu entscheiden. Sie bemühte sich, ihre Stimme zu beruhigen. »Ich glaube nicht, dass ich den Mut dazu gehabt hätte. Ich hätte gesagt, dass es die Mühe nicht lohnt. Wen kümmert es, dass wir hinter der Mauer eingesperrt sind? Hauptsache, wir leben. Hauptsache, unsere Kinder leben. Der Tod ist ein zu hoher Preis für die Freiheit.«
Was war der Preis für John-Pauls Freiheit? Rachel Crowley? War sie der Preis? Rachels Seelenfrieden? Der Seelenfrieden, den sie hätte, wenn sie schließlich und endlich wüsste, was genau ihrer Tochter widerfahren und warum sie gestorben war; wenn sie wüsste, dass die Person, die all das zu verantworten hatte, ihrer gerechten Strafe zugeführt wurde? Cecilia war bis heute stocksauer auf einen Grundschullehrer, der Isabel einmal zum Weinen gebracht hatte. Isabel erinnerte
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