Die Wahrheit eines Augenblicks
dagegen?«
»Wieso sollte er?« Cecilia zog sich langsam einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. Sie fühlte sich, als bohrte jemand seinen Daumen durch ihre Stirn, als wäre ihr Kopf aus Teig. Sie sah Virginia direkt in die Augen, die denen ihres Sohnes so ähnlich waren. Sie war einmal eine echte Schönheit gewesen und hatte einer ihrer stoffeligen Schwiegertöchter bis heute nicht verziehen, dass die sie auf einem Foto, das im Wohnzimmer hing, nicht erkannt hatte.
Virginia senkte den Blick. »Ich dachte nur, es wäre ihm vielleicht lieber, wenn nicht zu viele Zaungäste auf die Geburtstagsparty seiner Tochter kämen.« Ihre Stimme klang ein wenig falsch. Sie biss vom Kokosplätzchen ab und kaute unbeholfen darauf herum, als gäbe sie nur vor zu essen.
Sie weiß es ! Der Gedanke traf Cecilia wie ein Schlag.
John-Paul hatte gesagt, niemand wüsste es. Er beharrte darauf.
Sie schwiegen eine Weile. Cecilia hörte den Kühlschrank brummen. Sie spürte das Pochen ihres Herzens. Virginia konnte es nicht wissen, oder doch? Cecilia schluckte und schnappte unwillkürlich nach Luft.
»Ich habe mit Rachel über ihre Tochter gesprochen«, sagte sie. Sie klang atemlos. »Über Janie. Auf dem Heimweg.« Cecilia hielt inne und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Virginia hatte das Kokosplätzchen aus der Hand gelegt und wühlte in ihrer Handtasche. »Erinnerst du dich noch gut an damals … an die Zeit, als es passiert ist?«
»Ich erinnere mich noch sehr gut«, antwortete Virginia. Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Tasche und schnäuzte sich. »Die Zeitungen waren voll davon. Seitenweise Fotos. Sie zeigten sogar ein Foto vom …« Sie zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand und räusperte sich. »… vom Rosenkranz. Das Kreuz war aus Perlmutt.«
Der Rosenkranz. John-Paul hatte gesagt, dass seine Mutter ihm den Rosenkranz an jenem Tag mitgegeben hatte, da er eine Prüfung gehabt hatte. Sie musste ihn erkannt haben. Und sie hatte nie ein Wort gesagt. Die Frage nie gestellt, sodass sie die Antwort nie hatte hören müssen. Aber sie wusste es. Sie wusste es sehr wohl. Cecilia spürte ein feuchtkaltes Kribbeln, das an ihren Beinen hochkroch, ein Frösteln, wie es einen überläuft, wenn eine Grippe im Anzug ist.
»Aber das ist schon so lange her«, sagte Virginia.
Cecilia nickte. »Ja. Obwohl es schrecklich sein muss für Rachel. Nichts zu wissen. Nicht zu wissen, was genau geschehen ist.«
Sie sahen einander direkt an. Und diesmal senkte Virginia nicht den Blick. Cecilia bemerkte winzige orangerote Puderreste in den feinen Linien, die sich um Virginias Mund verästelten. Von draußen klangen liebliche Geräusche herein: das Krächzen der Kakadus, das Zwitschern der Sperlinge, das ferne Brummen eines Laubbläsers, der dumpfe Schlag einer Autotür …
»Aber das würde nicht wirklich etwas ändern, nicht wahr? Es würde Janie auch nicht wieder zurückbringen.« Virginia tätschelte Cecilias Arm. »Du hast genug um die Ohren, du musst dich nicht noch deshalb grämen. Deine Familie kommt zuerst. Dein Mann, deine Kinder. Sie kommen zuerst.«
»Ja, natürlich.« Cecilia stockte. Die Botschaft war klar und deutlich. Die Sünde hatte ihr Haus befleckt. Und sie roch nach Sesamöl.
Virginia lächelte süßlich und nahm das Kokosplätzchen zwischen zwei Fingerspitzen. »Aber das muss ich dir ja nicht sagen, nicht wahr? Du bist Mutter. Du würdest alles für deine Kinder tun, so wie ich alles für meine tue.«
29
Der Schultag war fast vorbei. Rachel war dabei, das Mitteilungsblatt der Schule zu tippen, und ihre Finger glitten flink über die Tastatur: Am Kiosk gab es ab sofort Sushi. Mmh, gesund und lecker! Die Schulbibliothek brauchte mehr freiwillige Helfer. Und nicht vergessen: Morgen – Ei, Ei, Ei – stand die große Oster-Eier-Parade an! Und noch etwas: Connor Whitby würde des Mordes an Rachel Crowleys Tochter angeklagt werden. Hurra! Herzlichen Glückwunsch an Rachel! Ab sofort werden Bewerbungen für den Posten des Sportlehrers angenommen.
Ihr kleiner Finger drückte auf die Löschtaste. Löschen. Löschen.
Ihr Handy summte und vibrierte neben dem Computer auf dem Schreibtisch, und sie nahm ab.
»Mrs. Crowley. Rodney Bellach hier.«
»Rodney! Haben Sie gute Neuigkeiten für mich?«
»Nun ja. Nein … ich wollte Ihnen nur erzählen, dass ich das Band an einen guten Kollegen vom Team für ungelöste Mordfälle gegeben habe.« Rodney klang gestelzt, als hätte er sich im Vorfeld sorgfältig
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