Die Wahrheit eines Augenblicks
gemütlicher ist?«
»Nee, ist gut hier.«
Eine Weile lagen sie in einträchtiger Stille nebeneinander.
»Mmmm. Was machst du da?«, fragte Tess.
»Mal sehen, ob ich mich noch auskenne.«
»Das finde ich aber ein bisschen … unanständig. Oder geil? Oh, oh, oh …«
»Gefällt dir das, Teresa? Warte, wie war dein Name noch gleich?«
»Hör bitte auf zu quatschen!«
32
Cecilia saß auf dem Sofa neben Esther. Sie sahen auf dem Laptop YouTube-Videos von der kalten, klaren Novembernacht 1989, als die Berliner Mauer fiel. Cecilia entwickelte selbst langsam ein gesteigertes Interesse an der Mauer. Nachdem John-Pauls Mutter am Morgen gegangen war, war sie am Küchentisch sitzen geblieben und hatte eines von Esthers Büchern gelesen, bis es Zeit gewesen war, die Mädchen von der Schule abzuholen. Es gab so viele Dinge, die sie zu erledigen gehabt hätte – Tupperware-Auslieferungen, Vorbereitungen für Ostersonntag und die Piratenparty. Doch über die Berliner Mauer zu lesen war eine gute Möglichkeit, sich von ihren eigentlichen Gedanken abzulenken.
Wie so oft am Abend trank Esther warme Milch. Und Cecilia hatte inzwischen ihr drittes – oder viertes? – Glas Sauvignon Blanc vor sich stehen. John-Paul saß mit Polly am Esstisch und übte mit ihr Lesen. Isabel hockte vor dem Computer im Wohnzimmer und lud Musik auf ihr iPod herunter. Das Haus mit seinem gemütlichen Licht war eine warme Oase. Cecilia schnäuzte sich. Der Geruch von Sesamöl schien sich in allen Räumen ausgebreitet zu haben.
»Guck mal, Mum!« Esther stieß sie mit dem Ellbogen an.
»Ja, ich schau ja zu …«
Die Bilder aus den Nachrichten von 1989 hatte Cecilia chaotischer in Erinnerung als die, die sie jetzt gerade im Video sah. Sie erinnerte sich an Massen von Menschen, die auf der Mauer tanzten, sangen und johlend die Fäuste in die Luft stießen. Doch in den Filmausschnitten, die Esther gefunden hatte und die gerade über den Laptop-Bildschirm liefen, herrschte eine ungewohnte, fast unheimliche Stille. Die Menschen, die aus Ost-Berlin in den Westen wanderten, wirkten wie betäubt. Heiter, aber gefasst, marschierten sie in altgewohnter Manier in Reih und Glied. Männer und Frauen mit Frisuren der Achtzigerjahre tranken Sekt aus der Flasche, warfen den Kopf zurück und lächelten in die Kameras. Sie fielen sich in die Arme, weinten. Sie hupten, doch alle wirkten gesittet und manierlich, so überaus wohlerzogen. Sogar die Leute, die mit Vorschlaghämmern gegen die Mauer hauten, schienen das in kontrollierter Freude zu tun, nicht in blinder Wut. Cecilia sah eine Frau, die etwa im gleichen Alter war wie sie selbst und mit einem bärtigen Mann in Lederjacke tanzte.
»Wieso weinst du, Mum?«, fragte Esther.
»Weil die Menschen so glücklich sind.«
Weil sie diese unerträgliche Sache erduldet und ertragen hatten. Weil diese Frau, wie so viele andere, wohl nie damit gerechnet hatte, den Tag des Mauerfalls noch zu erleben, und nun, da er endlich gekommen war, tanzte sie vor Freude.
»Komisch, dass du immer über schöne Dinge weinst, Mum.«
Cecilia nickte. »Ich weiß.«
»Möchtest du eine Tasse Tee?« John-Paul stand vom Esstisch auf, als Polly ihre Lesefibel zuklappte, und sah Cecilia verunsichert an. Den ganzen Abend war sie sich seiner scheuen, ängstlichen Blicke bewusst gewesen. Es machte sie wahnsinnig!
»Nein«, antwortete sie barsch und vermied es bewusst, ihn anzuschauen. Sie spürte die verdutzten Blicke ihrer Töchter. »Ich will keinen Tee.«
33
»Ich erinnere mich an Felicity«, sagte Connor. »Sie war lustig. Schlagfertig. Ein bisschen unheimlich.«
Sie waren inzwischen in Connors Bett umgezogen. Es war ein gewöhnlich großes Bett mit einem einfachen Bettbezug aus weißer ägyptischer Baumwolle. (Tess hatte ganz vergessen, wie gern sie gute Bettwäsche hatte, Wäsche wie im Hotel.)
Connor hatte einen Rest Nudeln vom Abend zuvor aufgewärmt, den sie nun im Bett zusammen aßen.
»Wir könnten uns wie zivilisierte Menschen an den Tisch setzen«, hatte er angeboten. »Ich könnte noch Salat anrichten und Platzdeckchen auflegen.«
»Lass uns einfach hierbleiben!«, sagte Tess. »Wäre mir am Tisch vielleicht etwas unangenehm.«
»Wie du willst.«
Die Nudeln waren sehr lecker. Tess verschlang sie förmlich. Sie spürte diesen unbändigen Heißhunger, den sie aus den Zeiten kannte, als Liam ein Baby und sie die ganze Nacht auf gewesen war, um ihn zu stillen und zu wickeln.
Und nun hatte sie soeben zwei heiße,
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