Die Wahrheit stirbt zuletzt
Papier ist in New York abgestempelt und von einem Mann unterschrieben worden, der sich »vice director«nennt, sowie von zwei Zeugen, die Anwälte bei einer New Yorker Firma mit vielen Namen sind, und schließlich von Joe Mercer, Journalist. Es muss sich dabei um das Dokument handeln, das Joe in Madrid abgeholt hat, vermutlich bei der amerikanischen Botschaft.
Ramon studiert das Schriftstück gründlich, dreht und wendet es und versichert sich, dass es echt ist. Es ist deutlich zu erkennen, dass er nicht zum ersten Mal einen internationalen Kreditbrief in der Hand hält. Er faltet es vorsichtig wieder zusammen, steckt es in den Umschlag zurück und legt es in Mercers Tasche. »Das sieht alles sehr gut aus, und wie vereinbart ist die Eurobank nicht involviert.«
»Es ist doch selbstverständlich, dass wir die kommunistische Tarnbank nicht involvieren.«
»Alles ist genau so, wie es sein soll, Don Mercer.«
»Wir sind Ehrenmänner, Don Ramon«, sagt Joe, nimmt die Tasche von seiner Schulter und reicht sie Ramon, der die Schnallen sorgfältig zumacht, bevor er sie sich über die Schulter hängt. Er macht dem jungen Mann ein Zeichen, indem er den rechten Daumen in die Höhe reckt.
»Ist es weit von hier?«, fragt Joe, und bevor Magnus mit dem Übersetzen begonnen hat, antwortet Ramon Irribarne bereits auf Englisch mit starkem Akzent: »You are looking at it, kid.« Er winkt den jungen Mann zu sich heran, während Joe grinst, seine Zigaretten hervorholt und im Sonnenschein stehend davon anbietet.
Die Stimmung auf dem Berg der Empfängnis ist auf einmal so gut, dass der Krieg sehr weit weg und die Möglichkeiten auf der anderen Seite des blauen, weiten Meeres unendlich zu sein scheinen.
Sie gehen den Berg hinunter. Ramon Irribarne geht voran, gefolgt von Joe, dahinter Magnus, und zuletzt kommt der junge Mann, dessen Alter wie bei so vielen anderen im Bürgerkriegsspanien schwer zu schätzen ist. Er ist mager,aber auf eine sehnige und muskulöse Weise. Sein viereckiges Gesicht unter der dunklen Baskenmütze ist ausdruckslos, und über der Oberlippe ist ein Schatten zu sehen, als habe er sich heute Morgen schlecht oder gar nicht rasiert. Seine Nase scheint gebrochen zu sein. Als Meyer ihm die Zigarette angezündet hat, hat er bemerkt, dass ihm im Unterkiefer sämtliche Zähne fehlen. Der junge Mann sagt nichts, und Irribarne stellt ihn lediglich als Francisco vor. Sein Gewehr ist eines der neuen aus Russland, das nur Auserwählte bekommen.
Der Abstieg fällt ihnen deutlich leichter als der Aufstieg. Sie gelangen zur Kirchenruine am Fuße des Berges. Die Tür hängt noch halb im Türrahmen, als könne sie sich nicht entscheiden, ob es die Mühe wert ist, dort zu verharren, oder ob sie die Anstrengung lieber ganz aufgeben sollte.
Das hohe Kirchenschiff ist dunkel und riecht merkwürdig nach Schweiß und Exkrementen. Es gibt keine Kirchenbänke, sondern nur den kalten Steinfußboden und Abfallhaufen, zwischen denen fette Ratten wie schnelle Schatten umhereilen. Der Altarschmuck ist ebenfalls entfernt worden. An den groben Wänden sind Reste christlicher Ornamentik zu sehen, darüber Schriftzüge, die besagen, dass die Revolution und der Sozialismus siegen werden, und die etwas seltsame Feststellung, dass die Kommunisten Kinder des Teufels sind und dass Maria rammelt wie ein Kaninchen. Es gibt viele Einschusslöcher, und die meisten der hohen Glasfenster sind zerstört. Vom Altar ist nur noch der eine Stein übrig, der einmal sein Fundament bildete unter einer Christusfigur am Kreuz ohne Beine. Sie hängt noch immer unter einem schmalen Fenster, durch dessen kaputte Scheibe zumindest ein wenig Licht hereindringt.
Magnus fällt auf, dass sowohl Mercer als auch Irribarne sich vor der Christusfigur diskret bekreuzigen, auch wennihr irgendjemand die Beine abgeschlagen oder abgeschossen hat. Schatten huschen über das schmale, schmerzverzerrte Gesicht des Erlösers. Eine Ratte flieht an der Kirchenmauer entlang und verschwindet in einem Loch im Boden.
»Willkommen, Señores, in La Catedral de Santa Maria La Vieja«, sagt Ramon und geht hinter den Altar und durch eine niedrige Tür, bei der sich alle bücken müssen, um hindurchzugelangen.
Sie betreten ein schmales, dunkles Zimmer, in dem es beißend nach Urin und Exkrementen riecht. In einer Ecke befindet sich ein niedriges, unregelmäßiges Loch, das im Halbdunkel so aussieht, als sei es von Menschenhand in die massiven alten Kirchensteine gehauen worden. Neben dem Loch
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