Die Wahrheit stirbt zuletzt
Dann wurden Häuser errichtet und Wege darum herum gebaut, und die Menschen, die noch etwas über die römische Vorzeit wussten, starben, ohne etwas Schriftliches hinterlassen zu haben. Ich bin, wie gesagt, kein gebildeter Mann, Señor. Aber an diesem Ort bekomme ich eine Gänsehaut, und ich spüre, wie die Geschichtein meinem Blut rauscht. Und die Gewissheit, dass nur wenige andere diesen Ort kennen, lässt das Blut in meinen Adern schneller fließen.«
Magnus hat keine Lust, dies für den ungeduldigen Joe zu übersetzen, und fragt stattdessen noch einmal, wie Irribarne diesen Ort entdeckt hat.
»Das war nicht ich, sondern Francisco. Als es unter Francos Führung zum Aufstand der Offiziere kam, wurde hier in Cartagena natürlich auch gekämpft. Die Kathedrale wurde dabei teilweise zerstört, und nachdem die Republik den Aufstand niedergeschlagen hatte, wurde die Kathedrale geschlossen. Die neue Stadtregierung nutzte sie einige Monate lang als Gefängnis für ihre politischen Gegner. Franco-Sympathisanten, Priester, Mönche und andere, von denen sie glaubte, sie seien eine Bedrohung für die Revolution, wurden hier eingesperrt und verhört. Francisco saß hier ein. Während der Verhöre hat er seine Zähne verloren. Ein alter, verwirrter Mönch hat ihm davon erzählt, dass sich unter der Kathedrale ein altes römisches Bauwerk befinde, in dem die Gespenster der Vorzeit ihr Unwesen trieben. Es liege hinter dem Sarkophag des Heiligen Andreas, aber alle, die versuchten, dorthin vorzudringen, würden einen schmerzhaften Tod erleiden und für immer in der Hölle schmoren.«
Er bekreuzigt sich und fährt fort: »Der Mönch sagte, in der Nacht könne man die Schreie der sterbenden Gladiatoren und den Jubel der Massen hören, wenn die Sklaven massakriert oder von den Löwen und anderen Raubtieren, die die Römer aus ihren afrikanischen Besitzungen importiert hatten, in Stücke gerissen und gefressen wurden. Francisco ist ein prosaischer Mensch. Die Schreie stammten nicht von toten Römern, sondern von sehr lebendigen Menschen, die von den Russen und ihren Schergen verhört wurden, meinte er, als er mir von dem Mönch erzählte, der selbst in der Kathedrale ums Lebenkam. Sein Herz hielt den Überredungsmethoden des Verhörleiters nicht stand. Mögen sie allesamt in der Hölle verrotten, und möge die Milch ihrer Mütter und Schwestern viele Generationen lang vergiftet sein.«
»Wie ist es Francisco gelungen, von hier zu entkommen, sodass er dir die Geschichte erzählen konnte?«
»Bei einem der Luftangriffe wurde die Kathedrale getroffen, und während der allgemeinen Verwirrung sind Francisco und einige andere Gefangene abgehauen. Einige von ihnen wurden getötet, andere wieder gefangen genommen, und um den Rest wollte man sich nicht länger kümmern. Francisco erzählte mir die Geschichte des Mönchs, als ich ihn in meine Familie aufnahm, und sie fiel mir wieder ein, als ich überlegte, wo ich zwei Kisten mit ziemlich wertvollem Inhalt wohl am besten verstecken könnte.«
»Seid ihr bald mal fertig mit eurer Geschichtsstunde?« Joes Stimme klingt gereizt. »Wo zum Teufel ist das Gold versteckt?«
Magnus versteht nicht, warum Joe so angespannt ist. Es läuft doch alles, wie es soll, auch wenn sie noch keinen Plan haben, wie sie die Kisten von hier wegbekommen. Wenn er sich recht erinnert, wiegen sie jeweils um die fünfzig Kilogramm. Am besten ziehen sie sie hinter sich her, aber damit müssen sie natürlich warten, bis es Abend ist, denn im Dunkeln lässt sich die Beute sicherer durch die schwarzen Gassen transportieren. Vielleicht traut Mercer dem Spanier in Wirklichkeit nicht. Er wirkt auf jeden Fall sehr nervös.
Ramon Irribarne muss offensichtlich doch ganz gut Englisch können, überlegt er weiter, denn der Spanier sagt mit einem Lächeln: »Dreh dich um, Americano. Dann siehst du deinen neuen Besitz.«
Magnus übersetzt, und Joe dreht sich um.
Im flackernden Licht können sie zwei rechtwinkligeGegenstände erkennen, die mit einem hellen, staubigen Stück Stoff bedeckt sind, sodass sie kaum von den in die Wand gehauenen Stufen zu unterscheiden sind. Joe will den Stoff schon herunterziehen, zögert dann aber einen Augenblick. Eine Ratte klettert die Wand hinauf und verschwindet in einem Loch in etwa anderthalb Meter Höhe. Joe überwindet sich und entfernt mit einem Ruck das staubige Stück Stoff.
Darunter befinden sich zwei Kisten, beide etwa so groß wie die Apfelkisten, die Magnus von früher kennt. Sie
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