Die Wahrheit stirbt zuletzt
Granaten der Luftabwehrbatterie entzündet haben müssen, aber der Kellner sagt, Cartagena sei in dieser Nacht glimpflich davongekommen. Joe meint, es seien nur drei oder vier deutsche Maschinen gewesen, die während des nächtlichen Bombardements eine neue Formation ausprobiert hätten. Diesmal hätten sie keine von den verfluchten Brandbomben abgeworfen, die wie funkelnde Silbersterne herabtrudelten, um am Boden zu explodieren und Phosphor um sich herum zu verbreiten.
»Spanien ist ein einziges verdammtes Kriegsexperimentierfeld«, wiederholt er fluchend bei jedem neuen Drink, den er in sich hineinschüttet.
Magnus bleibt beim Bier, während Joe Gin mit sehr wenig Tonic trinkt. Er flucht auch mehrfach darüber, dass die Luftwaffe der Republik nie zur Stelle sei, wenn man sie brauche, obwohl es nur wenige Kilometer von Cartagena entfernt einen Luftwaffenstützpunkt gebe und dieRussen dort auch zwei Versorgungsstützpunkte eingerichtet hätten. Was zum Teufel machten die da eigentlich? Er spricht laut und inzwischen auch ziemlich lallend. Die anderen Gäste sehen hin und wieder zu ihnen herüber, aber anscheinend ist Mercers unübersehbare Verzweiflung ein so gewöhnlicher Anblick in dieser kriegsmüden Stadt, dass niemand seinem Benehmen besondere Beachtung schenkt.
Magnus gibt es auf, noch irgendetwas aus dem großen Amerikaner herausholen zu wollen, der schlecht gelaunt ist und ziemlich betrunken, und so verabschieden sie sich bald voneinander.
Am nächsten Tag ist das Wetter schön und beinahe sommerlich, und Joe Mercers Laune ist deutlich besser, so als hätten die herrliche Sonne und der kräftige Geruch des Salzwassers seine Schwermut und seine Bitterkeit vertrieben. Als sie ihren dünnen Kaffee trinken und wieder ein teures Spiegelei mit weißen Bohnen in roter Tomatensoße essen, gibt er zwar nach wie vor kaum etwas preis, verrät Magnus aber immerhin, dass der Mann, den sie gleich treffen würden, Ramon Irribarne heiße, und er berichtet ihm auch einige interessante Dinge über ihn.
Sie machen sich auf den Weg zum Berg.
Je wärmer es wird, desto mehr taut Joe auf und fängt an zu erzählen. Wenn Ramon ihnen die gewünschte Information liefere, wo sich die beiden Kisten mit dem Gold befänden, bekomme er auf der Stelle die tausend Dollar, die Joe in Madrid abgehoben habe und in seiner Schultertasche bei sich trage. Danach würden mithilfe eines zertifizierten Kreditbriefes weitere zehntausend Dollar aus den USA auf ein Bankkonto in Paris transferiert. Irribarne habe nicht die geringste Chance, das Gold aus dem republikanischen Teil Spaniens herauszubekommen, und wolle daher nur ein Startkapital haben, um in Frankreich oderden USA, wo ein Verwandter von ihm lebe, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Für ihn sei das ein Vermögen, wenn man an den unglaublich schlechten und stetig fallenden Kurs der spanischen Peseta denke.
»Er lebt von geborgter Zeit«, sagt Mercer. »Er wird in Barcelona wegen Mordes an einem Hafenwächter gesucht. Es ist ein bisschen lächerlich, dass sie ihn ausgerechnet wegen dieses Mordes drankriegen wollen, wenn man bedenkt, was er als Kopf einer Bande hier in Cartagena sonst so getrieben hat. Aber seine Leute sind stark dezimiert, und eine andere ›Familie‹ hat den Hafen inzwischen unter Kontrolle. Er hat den Machtkampf verloren, aber einer seiner Leute war dabei, als das Gold verladen wurde. Der Mann lebt nicht mehr. Das spanische Gold hat einen Hang dazu, Leute umzubringen.«
Ramon Irribarne kann sich auch mit Bestechung nicht mehr davor schützen, ins Gefängnis gesteckt zu werden, daher will er jetzt mit einigen seiner engsten Vertrauten abhauen. Irribarne hat keine andere Wahl, er muss Mercer vertrauen, und Joe zufolge ist die Ehre der Kriminellen das, was zählt, wenn es ums Überleben geht. Joe will es sich daher auf keinen Fall mit Irribarnes Verwandten in den Staaten verderben. Es hat ihn einige Mühe gekostet, an all diese Informationen über Irribarne heranzukommen, aber Joe ist davon überzeugt, dass sie sich auszahlen wird. Ramon Irribarne kann ein wenig Englisch und versteht es ganz gut, möchte aber lieber seine eigene Sprache sprechen.
Magnus erfährt all dies, während sie den Berg hinaufsteigen, der »La Conception« heißt. Er bringt Joe zum Lachen, als er ihm erzählt, dass es »Empfängnis« bedeute, aber im religiösen Sinne, also die unbefleckte Art derselben.
»Wenn er heute mal nicht Lenin- oder verfluchter Stalinberg heißt«, sagt Joe
Weitere Kostenlose Bücher