Die Wahrheit stirbt zuletzt
Danach zerrt er den Riemen der Schultertasche über Irribarnes entstellten Kopf, schleift den großen Spanier zur Brunnenkante und lässt ihn ebenfalls in das runde Dunkel fallen.
Joe ist der Schwerste der drei. Seine Augen sind geöffnet und blicken ihn erschreckt oder vielleicht auch erstaunt an. Magnus weiß nicht, warum er es tut, aber er schließt sie. Mercers Brustkorb ist blutverschmiert, und auch Magnus’ Hände färben sich rot, als er Joe unter größter Anstrengung über den Boden und bis zum Rand des römischen Brunnens schleppt. Schwer atmend bleibt er am Brunnenrand stehen. Er bringt es nicht übers Herz, Joe mit dem Kopf zuerst hineinzustoßen, daher dreht er ihn um, obwohl ihn das viel Kraft kostet. Joes Beine hängen schon halb über dem dunklen Loch. Es fehlt nur noch der letzte kleine Stoß.
Magnus steht für einen Moment unentschlossen da. Das Ganze kommt ihm vor wie ein Albtraum, aus dem er jeden Moment zu erwachen glaubt. Aber als Magnus spürt, dass er furchtbaren Durst hat, weiß er, dass dies die Wirklichkeit ist.
»Joe, du verfluchter Idiot«, sagt er leise, und seine eigene Stimme erschreckt ihn in dem leeren Raum, in dem das Licht unheimliche, unförmige Schatten an die groben Wände wirft. Er geht in die Knie, umfasst Joes Schultern mit beiden Händen und schiebt, bis der große Amerikanerim Dunkel der Tiefe verschwindet. Magnus hört den Aufprall und sieht sich um. Er holt seinen Revolver hervor, lässt die drei leeren Patronenhülsen in seine Hand fallen und wirft sie in den Brunnen. Dann lädt er den Revolver erneut. Er sieht Franciscos schwarze Baskenmütze auf dem Boden liegen und wirft sie ebenfalls in die Tiefe. Alles ist weg, Menschen und Waffen. Nur das Gold ist noch übrig.
Er nimmt eine der Petroleumlampen, hängt sich die Tasche mit den Dollarscheinen und dem Kreditbrief über die Schulter, legt seinen Revolver hinein und geht durch den Gang zurück. Die übrigen Lampen lässt er brennen, sie werden ohnehin bald erloschen sein.
Er gelangt in die Seitenkapelle und löscht die Petroleumlampe, ehe er sich im Kirchenraum umsieht. Dort ist niemand. Nur ein paar Ratten, die in einer Ecke etwas zu fressen entdeckt haben. Er geht wieder zurück und beginnt, Steine vor das unregelmäßige Loch in der Mauer zu schieben. Es ist eine harte Arbeit, bei der seine Hände blutig werden, sodass sich sein eigenes Blut mit dem von Joe vermischt. Als er fertig ist, ist er staubig und dreckig, aber statt eines Lochs in der Mauer sieht man jetzt nur noch einen Haufen Steine. Eine Ruine in der Ruine, die aussieht wie so viele andere Ruinen im zerbombten Cartagena.
Als er ans Tageslicht zurückkehrt, ist die Sonne bereits verschwunden. Er hat versucht, sich den Dreck so gut wie möglich abzuwischen, aber dann wird ihm klar, dass er jetzt aussieht wie ein weiterer zerlumpter und dreckiger Bewohner dieser leidenden Stadt, in der Menschen umherstreifen, um sich etwas Essbares zu suchen.
Niemand nimmt von ihm Notiz, als er zum Strand hinuntergeht. Es fängt an zu regnen, ein langsam dahinströmender Regen. Der Strand ist menschenleer, dahinter das graue Meer, über dem Möwen schreiend einenSchwarm Fische jagen, der sich zu weit in Richtung Land vorgewagt hat. Magnus sieht sich um, bevor er sich bis auf die Unterhose auszieht. Mit offenen Augen taucht er in das graue Nichts. Das Wasser ist sehr kalt, aber das kann die Hitze, die in ihm lodert und seine Seele zu verbrennen droht, nicht lindern.
21
M agnus Meyer sitzt in der Hotelbar und denkt an Joe Mercer, aber vor allem an Mads. Er weiß nicht, wo er sich aufhält und was er tun kann, um ihn zu finden. Es geht Magnus nicht gut. Sein körperlicher Schmerz ist leicht zu erklären. Er hat einen Kater vom Abend zuvor, an dem er mal wieder viel zu tief ins Glas geschaut hat, als könne er auf diese Weise ein gnädiges Vergessen der Erlebnisse unter der Kathedrale von Cartagena herbeiführen. Sein seelischer Schmerz ist weitaus unergründlicher. Magnus fühlt sich verloren und verwirrt. In den ersten Tagen hat er sich ständig umgesehen, aus Angst vor der Polizei oder dem SIM oder vor wem auch immer, der in diesem verfluchten Land hinter ihm her sein mochte. Aber was bedeuteten in Spanien schon drei Tote, wo das Land doch nur so von Blut triefte?
Es ist später Nachmittag. Die Bar ist halb voll mit Offizieren und den Schwarzmarktleuten, die Albacete bevölkern. Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, dringt der Gestank von Schimmel und Regen herein.
Er
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