Die Wahrheit stirbt zuletzt
das Gefühl, dass in den letzten Tagen zweimal jemand in seinem Zimmer war. Und es war nicht das Zimmermädchen. Er weiß, wie sie aufräumt und sauber macht. Stattdessen gibt es winzige Anzeichen dafür, dass professionelle Finger seine Sachen durchwühlt haben, um Dokumente zu finden oder wonach auch immer die Kerle vom SIM auf der Suche sind. Er spürt die Überwachung wie ein Ziehen in seinem Körper, wie ein Schaudern am Rückgrat entlang, das ihm Angst macht. Wie so viele andere in Albacete weiß er, dass die Schüsse, die früh am Morgen vom fernen Hof der Zivilgarde zu hören sind, vom Hinrichtungskommando abgefeuert werden, das mal wieder einen Verräter oder einen vermeintlichen Spion an die Wand gestellt hat, um ihm seine verdiente Strafe zuteilwerden zu lassen.
Aber es sind besonders die Albträume von Joe, die bei ihm das schleichende Selbstmitleid hervorrufen, das er so verachtet. Er fürchtet sie und versucht, sie mit Alkohol fernzuhalten. Aber das nützt nichts.
Der Traum ist immer der gleiche, mit winzig kleinen Abweichungen. Joe kommt mit einem Blumenstrauß in der Hand auf ihn zu. Sie befinden sich in einer merkwürdig gelben Wüstenlandschaft. Es scheint warm zu sein, aber sie schwitzen nicht. Joe lächelt über das ganze Gesicht, trägt nur ein kurzärmeliges Hemd und seltsam aussehende Shorts, die ihm fast bis zu den Knien reichen. Joe sieht ungeheuer freundlich aus, aber Magnus hat eine Wahnsinnsangst vor ihm. Er weiß, dass Joe kommt, um ihn umzubringen, und dass die Blumen nur Tarnung sind. »Hau ab, Joe!«, will er rufen, aber es schnürt ihm die Kehle zu. Er will den Revolver ziehen, den er am Gürtelträgt, aber er kann seine Hand nicht bewegen. Seine Hände sind mit Stacheldraht gefesselt und bluten. Joes Gesicht verändert sich. Es sieht unheimlich aus und verfärbt sich rot, und aus seinen Augen trieft rötlich gelber Eiter. Der Blumenstrauß in seiner Hand wird zu einer Axt, von der Blut tropft. Joe hebt die Axt in die Höhe. Sein Gesicht ist jetzt übersät mit krabbelnden, schleimigen Maden. An dieser Stelle des Traums wacht Magnus zum Glück meistens auf. Ein paar Mal ist er aber erst aufgewacht, als Joe sein Gesicht mit den fetten eitergelben Larven über ihn gebeugt hat, als wolle er ihm einen letzten Kuss geben.
Magnus flucht in der Bar vor sich hin und trinkt einen großen Schluck Bier, bevor er sich eine neue Zigarette anzündet. Er sitzt auf seinem Stammplatz am Ende der langen Bar. Heute ist viel Betrieb, denn draußen prasselt der Regen auf die kriegsmüde Stadt nieder. Er hat Albacete in den letzten Wochen nur zu gut kennengelernt. Es ist ein Paradies für Hochstapler, Schwarzmarkthändler, Spione, Deserteure und Waffenhändler, die die vielen kleinen Wirtshäuser und Spielhöllen bevölkern. Er hat sich mit den verlorenen Seelen dieser Stadt eingelassen, und er weiß, dass es eine Flucht gewesen ist. Dasselbe gilt für die drei Artikel, die er geschrieben hat. Eine Flucht davor, endgültig abzureisen, weil er versagt hat. Eine Flucht vor seiner hoffnungslosen, kindischen Verliebtheit in Irina.
Er hat die Artikel als lange Briefe angelegt.
Der eine war eine Beschreibung von Albacete. Er geht davon aus, dass Redakteur Brodersen in der Heimatstadt die deftigsten Details über Huren und Taschendiebe herausredigieren wird, aber auf der anderen Seite passen die Sündhaftigkeit und die Unmoral vielleicht ganz gut zu dem Bild, das ein bürgerlicher Redakteur vom Hauptquartier der Internationalen Brigaden verbreiten möchte.
Außerdem hat er einen Artikel verfasst, in dem es um die Aussichten der Republik geht, den Krieg zu gewinnen.Er hat ihr keine großen Chancen eingeräumt, aber er hat die Tapferkeit der Brigaden gelobt.
Und schließlich hat er mit Toves Zustimmung ihre Geschichte niedergeschrieben und sie ihr zum Lesen gegeben. Die Geschichte musste ja die Postzensur passieren, daher war er gezwungen, sie ihr zu zeigen. Tove war gerührt und dankbar und fühlte sich geehrt, dass man jetzt in der Heimat über sie lesen würde. Dadurch werde sie ja beinahe so etwas wie eine Berühmtheit. Er hatte sie zum Abendessen eingeladen, und dann hatten sie miteinander geschlafen. Die beiden anderen Artikel hatte er einem dänischen Reporter mitgegeben, den er nachts in einer Bar kennengelernt hatte. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt durch die Zensur gekommen wären.
Meyer hat inzwischen Antwort von Redakteur Brodersen erhalten. Ein Telegramm, das an Magnus Meyer, Gran
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