Die Wahrheit stirbt zuletzt
hat den Zug nach Valencia genommen, in einem kleinen Hotel übernachtet und ist mit dem Frühzug nach Albacete weitergereist. Einmal wurde er gefragt, wo Joe wohl gerade sei, und da antwortete er nüchtern und vollkommen überzeugend, Joe sei vermutlich nach Madrid gereist, aber er habe auch von Barcelona gesprochen. Quien sabe? Joe war Journalist. Die sind hier und da und überall und lassen sich nicht an die Leine legen.
Magnus fühlt sich so unsicher wie nie zuvor in seinem Erwachsenenleben. Er weiß nicht, was er will. Er ist zerrissenzwischen dem Plan, nach Dänemark zurückzukehren oder vielleicht nach New York, und dem Wunsch, in Albacete zu bleiben und wie ein Schuljunge noch einmal auf Irina zu warten, in der Hoffnung, sie für sich zu gewinnen. Er ist rettungslos in sie verliebt. Wie idiotisch darf man eigentlich sein?
Seit er aus Cartagena zurück ist und Irina im Hotel angetroffen hat, haben sie zweimal zusammen mittaggegessen, und ein einziges Mal ist es zu einem feuchtfröhlichen Abendessen gekommen, nach dem es so aussah, als würde sie schwach werden und mit auf sein Zimmer kommen. Sie hatte ihn leidenschaftlich geküsst, aber plötzlich war ein Schatten über ihr Gesicht gehuscht, sie hatte sich losgerissen und war in ihrem Zimmer verschwunden. Dabei hatte er ihre Lust ganz deutlich gespürt. An wen oder was hatte sie so plötzlich denken müssen? Am nächsten Morgen war sie dann mit einem russischen Journalisten zu einer Reportagereise aufgebrochen.
Jetzt wartet er wieder auf sie. Draußen ist es kalt, und der Regen prasselt von einem pechschwarzen Dreckshimmel herab. Auf den Straßen schwimmen Eselpisse und Wasser aus den Kloaken.
Er kann es nicht ertragen, an Mads zu denken, tut es aber dennoch fast ununterbrochen. Er kann gar nicht abreisen. Wie könnte er Marie jemals wieder unter die Augen treten? Die Ungewissheit ist am schlimmsten. Wo steckt Mads? Wenn er es auf offiziellem Wege versucht, verweigert man ihm jegliche Auskunft darüber, wo Mads sich aufhält. Seine dänischen Kameraden wissen nichts. Außerdem sind die meisten von ihnen weiter nördlich im Einsatz und am Sturm auf Teruel beteiligt oder sie sind an die Madrid-Front geschickt worden. Pandrup ist ebenfalls nicht zu erreichen. Stepanowitsch hat er zwar gesehen, aber der will sich nicht mit ihm treffen. Tove von der Postzensur weiß nichts oder will nichts wissen oder darfihm nichts verraten. Sie wird jedenfalls sehr nervös, wenn er das Thema anschneidet.
Er hatte sie zum Abendessen eingeladen und in einem Anfall von Verzweiflung mit auf sein Zimmer genommen und ihren mageren Körper gevögelt. Er bereut es nicht. Warum auch? Sie sind beide erwachsen. Er will deswegen kein schlechtes Gewissen haben, aber der Akt hat dennoch einen schlechten Nachgeschmack bei ihm hinterlassen. Ihr Sex ist wild und verzweifelt gewesen, als hätten sie lange keinen gehabt und fürchteten, der Tod könne sie einholen, bevor sich ihnen eine neue Gelegenheit böte. Trotzdem war es eine merkwürdig freudlose Nummer, und er hatte Schwierigkeiten, überhaupt zum Orgasmus zu kommen. Hinterher hätte er Tove am liebsten rausgeworfen, aber so ein Scheißkerl ist er dann doch nicht. Sie wirkte auf einmal so fröhlich und zufrieden, lag lächelnd in seinem Bett, rauchte seine Zigaretten und plauderte munter drauflos.
Am Morgen hat er sie noch einmal gevögelt, aber seitdem alles getan, um ihr aus dem Weg zu gehen. Es ist jetzt bald eine Woche her, sie dürfte also hoffentlich begriffen haben, dass es sich um eine einmalige Geschichte gehandelt hat. Eigentlich tut sie ihm leid, aber er will auf keinen Fall noch einmal mit ihr schlafen. Leider ist sie die Einzige, die ihm eventuell Informationen über Mads liefern kann, aber trotz ihrer gemeinsamen Nacht und der intimen Wehrlosigkeit, die sie unmittelbar danach ausgestrahlt hat, ist sie in diesem Punkt standhaft geblieben. Sie weiß nichts. Mads gehört zu den Geheimen, und nach denen zu fragen ist zu gefährlich.
Er trinkt sein Glas leer, drückt die säuerlich schmeckende Zigarette in dem vollen Aschenbecher aus und bestellt ein weiteres großes Bier. Er trinkt zu viel. Das tun in Albacete alle, aber das ist verdammt noch mal keine Entschuldigung dafür, sich so gehen zu lassen. Schließlichhat er immer voller Stolz auf die Pflicht verwiesen, sein Leben unter Kontrolle zu haben, und hat das Selbstmitleid einiger Leute als schwächlich verhöhnt.
Es gibt aber noch etwas anderes, das ihn beunruhigt. Er hat
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