Die Wahrheit stirbt zuletzt
Jetzt herrscht wieder Flug- und damit auch Bombenwetter, mein Schatz.«
Sie schlägt ihm scherzhaft mit ihrer behandschuhten Hand auf den Arm, wirft aber gleichzeitig einen besorgten Blick zum schwarzen Himmel mit den kleinen, leuchtenden Sternenpunkten hinauf, die so deutlich über der dunklen Stadt zu sehen sind.
Unter den Ballgästen herrscht eine heitere, erwartungsvolle Stimmung. In der Wolke von Parfum und Eau de Cologne sieht Magnus sowohl Männer in Smokings und Fräcken mit weißer Binde als auch Presseleute, die er wiedererkennt und die wie er Anzüge tragen, und Offiziere aus dem stehenden Heer der Republik. Die Offiziere, die Beamten und die Politiker sind aus der Regierungsstadt Barcelona und aus Valencia hierhergekommen. Auf den Uniformen glänzen Medaillen und Orden mit dem Schmuck der Frauen um die Wette.
In einem großen Saal hat man an der Wand entlang Tische aufgestellt, ebenso in den drei angrenzenden Räumen, und ein großes Buffet aufgebaut. Überall wird geredet und geraucht und spanischer Sekt getrunken. Die Luft ist bereits sehr warm. Die nackten Frauenarme glühen. Am Buffet, an dem jede Menge Tapas, Wein und Bier serviert werden, herrscht Gedränge. Das Essen riecht gut, aber Magnus hat keinen Hunger. Irina auch nicht, aber ein Glas Sekt möchte sie gern trinken. Neben der Bühne steht der Minister mit einigen Generälen. Eine Bigband spielt, und Magnus hört zu seiner Überraschung, dass es sich dabei unverkennbar um argentinische Klänge handelt. Noch ist es keine Tanzmusik, sondern die Eingangsmusik für die Offiziere und ihre entweder sehr jungenEhefrauen oder – was wahrscheinlicher ist – ihre Geliebten. Die Stimmen steigen zur Decke hinauf, eine Kakophonie oberflächlichen Geplauders, und er muss unwillkürlich daran denken, dass man hier feiert, während an einer der vielen bedrängten Fronten der Republik gestorben wird.
Er spürt ein Ziehen im Magen und einen Stich in dem Teil seines Bewusstseins, in dem das schlechte Gewissen beheimatet ist. Er empfindet eine plötzliche und merkwürdige Sehnsucht danach, Joe Mercers sarkastische Stimme diesen glitzernden, oberflächlichen Galaball mitten in der Hölle des Krieges beschreiben zu hören, so, wie er damals über die Feste und die Ausgelassenheit in den Madrider Nachtclubs gesprochen hatte. Er verdrängt diese Gedanken schnell wieder und schiebt sich weiter durch das Gedränge, um den Sekt für Irina zu holen.
Als er mit dem Glas in der Hand zu ihr zurückgeht, sieht er sie in dem Gewimmel stehen. Sie zieht die Blicke der Umstehenden auf sich. Eine Frau starrt Irina hasserfüllt an, die sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen lässt. Die kleine Frau hat eine Figur wie eine Sanduhr, ihre Lippen sind auf vulgäre Weise rot geschminkt, und offensichtlich ist sie mit einem schwarzhaarigen Mann mit großen braunen Augen unter buschigen Augenbrauen zusammen.
Er hat eine starke Ausstrahlung. Er ist nicht sonderlich groß, hat eine Zigarette im Mundwinkel und ein Glas in der Hand, und als Magnus näher kommt, hört er, dass er eine seltsame Mischung aus Englisch, Französisch und Spanisch spricht. Er redet viel, und Magnus ist überhaupt nicht erfreut darüber, weil er zugeben muss, dass er einer von diesen Männern ist, die alle auf Anhieb charmant und unterhaltsam finden. Außerdem ist unübersehbar, dass er und Irina einander gut kennen.
Irina freut sich ganz offensichtlich, diesen Mann wiederzusehen, auch wenn sie sich ihm nach den Küssen aufbeide Wangen entzogen hat. Sie dreht sich zu Magnus um, als er ihr das Glas reicht: »Darf ich dir meinen Kollegen und guten Freund André Renault vorstellen. Er arbeitet als Journalist bei der französischen kommunistischen Tageszeitung ›L’Humanité‹ und bei der Zeitschrift ›Vu‹. Und das ist Magnus Meyer, ein dänischer Kollege.«
Sie reichen einander die Hand, aber André wendet sich demonstrativ von Magnus ab und redet weiter mit Irina. Sie sprechen über einen gemeinsamen Freund und rühmen den Feldzug bei Teruel. Magnus spürt, wie die Eifersucht langsam in ihm aufsteigt. Irina scheint ganz hingerissen von dem Gerede des kleinen Franzosen. Sie lächelt ihn an, streicht sich über ihre Haare und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. André berührt mehrfach ihren nackten Oberarm. Magnus wird von der molligen Frau gerettet, die André auf Französisch um ein weiteres Glas Sekt bittet. André ist verärgert, aber ihm bleibt nichts anderes übrig, als ihr leeres Glas
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