Die Wahrheit stirbt zuletzt
und so steht Magnus plötzlich auf der Bühne und singt im Duett mit der Sängerin »El día de me quieras«. »Der Tag, an dem du mich lieben wirst«, singt er mit Schmalz in der Stimme und den Blick auf Irina gerichtet, die mit strahlenden Augen und einem großen Lächeln dasteht, als wäre er ihre eigene Schöpfung.
Als die letzten Töne verklungen sind, wird enthusiastisch geklatscht, was allerdings nach fast jedem Lied der Fall ist. Zur Belohnung küsst ihn die Sängerin auf die Wange, und von Irina, die ihren Sekt trinkt, als sei er Limonade,bekommt er einen langen Zungenkuss, und für einen Moment fasst ihre Hand von allen unbemerkt in seinen Schritt und drückt sanft zu. Bevor er etwas sagen oder tun kann, zieht sie ihren Mund und ihre Hand zurück und schwebt mit einem Offizier auf die Tanzfläche, der eine Uniform trägt, an der mehr Orden befestigt sind, als es Schlachten gegeben hat. Ihr kleiner, raffinierter Hut ist ihr im Laufe des Balls abhandengekommen, sodass ihre Locken sich jetzt ungehindert kringeln.
André klopft ihm auf die Schulter und sagt, er sei ein Mann nach seinem Geschmack. Und er fragt, ob Magnus sich wirklich sicher sei, dass kein gallisches Blut in seinen Adern fließe, denn er benehme sich überhaupt nicht so wie die schwermütigen und sehr betrunkenen Durchschnittswikinger aus dem kalten Norden.
Die Stimmung nähert sich dem Siedepunkt, und die Rhythmen pulsieren ekstatisch im Blut der Tanzenden und Trinkenden. Magnus und André stehen, jeder ein Glas Cognac in der Hand, nebeneinander und beobachten Irina, die mit einem britischen Korrespondenten tanzt, dem es schwerfällt, mit ihren schnellen Tanzschritten mitzuhalten. Die Bigband hat jetzt die spanische Version eines Foxtrotts angestimmt.
André nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sagt in seiner skurrilen Mischung aus Spanisch, Französisch und Englisch: »Sie ist eine fabulosa Frau und unglaublich mutig. Ich habe sie an der Front erlebt. Merveilleux, mon ami. Sie macht auch fantastische Aufnahmen, das wahre Gesicht des Krieges, aber in ihrem Land können längst nicht alle gezeigt werden, you know. Sie sind denen nicht heroisch genug. Aber ich habe einige davon bei meinem französischen Magazin unterbringen können. Beim ›Life Magazine‹ würde man sie lieben, wenn sie dort veröffentlichen dürfte, aber das geht natürlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Onkel Stalin mag diese Art Bilder nicht. Und erst recht nicht in amerikanischen Zeitschriften.«
»Ich dachte, du wärst Kommunist, André.«
»Man kann doch trotzdem bedauern, dass Propaganda und Idiotie der Kunst manchmal im Wege stehen, no?«
»Das ist deine Entscheidung.«
»Ist es das? Ist es das wirklich immer, mon ami?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
André zündet sich noch eine von seinen dicken französischen Zigaretten an. Er hat die Angewohnheit, sie in den linken Mundwinkel zu klemmen und gleichzeitig zu rauchen und zu sprechen. Vielleicht rührt daher auch sein merkwürdiger Tick, das eine Auge zuzukneifen. »Ich weiß, was du denkst. Ich bin Kommunist, also muss Stalin für mich ein Held sein, ja, ein Gott. Das stimmt aber nicht, mon ami. Wir Kommunisten müssen kritisch sein, das muss uns im Blut liegen. Aber was passiert stattdessen? Kritik ist gleichbedeutend mit Tod geworden. Und hier in Spanien? Dasselbe. Wenn du Negrín kritisierst, gilt das als Verrat. Und in Moskau sterben aufrechte Kameraden. Sie sind eine Farce, diese Terrorprozesse gegen sogenannte Volksfeinde. Irina muss also vorsichtig sein. Bei der Stellung ihres Vaters.«
»Ich weiß nicht, was ihr Vater jetzt macht. Irina hat mir erzählt, dass er Diplomat ist. Stimmt das denn nicht?«
»No. Er ist Oberst beim NKWD, Stalins Geheimpolizei. Ein sehr vornehmer Spion, der als Diplomat getarnt nach London geschickt wurde. Du bist Reporter. Du kennst das Geschäft. Heute ist er ein sehr wichtiger und großer Mann, aber das garantiert für nichts, eher im Gegenteil. Kamerad Stalin kann Rivalen nicht leiden und räumt sie aus dem Weg. An einem Tag bist du der Henker, und am nächsten Tag bist du derjenige, dem ein neuer Henker die Kugel in den Nacken jagt. C’est la vie. And it fucking stinks, mon ami.«
»Ich verstehe nicht, warum du mir das alles erzählst.«
André macht eine theatralische Geste. »Das verstehe ich auch nicht, mon ami. Vielleicht bin ich etwas zu schnell etwas zu betrunken geworden. Vielleicht auch, weil mein Vater ein verfluchter Jesuit war und ich seinen
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