Die Wahrheit stirbt zuletzt
Hang zum Zweifeln geerbt habe. Vielleicht auch, weil ich dich mag. Du schaffst es irgendwie, dass ich mit dir rede wie mit einem Freund.« Er hält einen Moment inne, fährt dann aber fort: »Ich hatte einen Freund. Einen russischen Kameraden. Ich habe gestern erfahren, dass er vor zehn Tagen in Moskau als Volksfeind hingerichtet wurde. Igor als Volksfeind? Merde! Dann bin ich auch ein Volksfeind. Er war ein guter Parteikamerad. Was sind das für Menschen? Das NKWD nimmt einen Unschuldigen fest und bearbeitet ihn so lange, bis er selbst glaubt, schuldig zu sein. Es endet damit, dass der Unschuldige auf die Knie geht und für die Kugel dankbar ist, die ihm in einem Keller in Moskau in den Nacken gejagt wird. Das ist so teuflisch wie Dunkelheit am helllichten Tage.«
»Irina und ihr Vater? Ist es das, was du mir zu sagen versuchst?«
»Du solltest es wissen. Ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzähle.«
»Ich glaube, du solltest dir eine andere Partei suchen.«
»Nein. Die Alternativen sind noch schlimmer. Die Ideen sind ja auch in Ordnung. Die Menschen sind die Arschlöcher. Ich glaube, ich muss darum kämpfen, dass meine Partei sich ändert. Meinst du nicht?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
Wieder verändert sich Andrés Gesichtsausdruck, und mit einem strahlenden Lächeln sagt er: »Never mind. Genieß Irina, solange du kannst. Jetzt ist sie hier, und dann ist sie plötzlich wieder weg. Wie ein Schmetterling bei einem plötzlichen Windstoß. Schwups. Mit Klammeraffen kann sie nichts anfangen.«
Irina gesellt sich wieder zu ihnen. Sie lächelt dem Briten freundlich zu, der sich in Tanzstundenmanier vor ihr verbeugt, und sieht André und Magnus ein wenig fragend an, als ahne sie, dass sie über sie gesprochen haben. Sie nickt mit dem Kopf in Richtung Tür und lässt die drei Männer einfach stehen, die ihr gemeinsam hinterhersehen.
Der Brite stellt sich als Winston Ruttgers vor. Magnus fragt ihn, ob er zufällig einen jungen dänischen Freiwilligen namens Mads Meyer getroffen habe, aber das hat er nicht, obwohl er mehrere Artikel über die Freiwilligen geschrieben hat. Aber es sind ja viele Tausende. Als die Musik aufhört und die Tanzenden lautstark klatschen, entsteht eine kurze Gesprächspause.
Als die Band wieder spielt, sagt André: »Ich habe Magnus erzählt, wie mutig Irina ist.«
»Ja. Sie ist eine erstaunliche Frau. Es ist wirklich zu ärgerlich, dass sie für die Bolschewiken in Moskau arbeitet. Sie könnte es weit bringen. Es ist erst ein paar Tage her, dass wir zusammen in Teruel waren. Es war so verflucht kalt, dass einem die Eier abgefroren sind. Wir waren eine kleine Gruppe von Presseleuten, darunter Irina, die zusammen an die Front gereist sind. Sie haben die ganze Stadt umzingelt, aber die Nationalisten haben sich im Zentrum verschanzt. Die Artillerie und die Panzer haben einen höllischen Lärm gemacht, und wenn die Wolkendecke aufgerissen ist, sind die Flugzeuge über uns hinweggeflogen. Irina und ein französischer Fotograf und meine Wenigkeit lagen hinter einem Zementblock, als wir sahen, wie einer der Panzer der Faschisten einige hundert Meter vor uns unter Beschuss genommen wurde. Er wollte umkehren und sich hinter die Stadtmauern von Teruel zurückziehen. Der Panzer ging in Flammen auf, nur ein Mitglied der Besatzung konnte sich nach draußen retten. Irina springt auf, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her, und rennt mit ihrer verfluchten Kamera aufden brennenden Panzer zu. Sie springt in ein Schützenloch und bleibt dort, während ihr die Kugeln um die Ohren fliegen. Dann streckt sie den Kopf heraus und macht Fotos. Das macht sie ein paar Mal. Die Schützen der Nationalisten haben sie entdeckt. Es vergeht etwa eine halbe Stunde, und wir fürchten schon, sie verloren zu haben, aber dann drängen die Soldaten der Republik die Nationalisten weiter zurück, und Irina taucht aus dem Loch wieder auf und winkt mit ihrer Kamera, als habe sie gerade eine Medaille bei Herrn Hitlers Olympiade gewonnen. Wenn du ihre Augen nicht sehen kannst, bist du nicht nahe genug dran, ruft sie. Sie ist verrückt. Sie hat einen Kriegskoller.«
André sagt schnell etwas auf Französisch, das Magnus nicht richtig versteht, sodass Ruttgers es ihm übersetzen muss: »Das ist eine ansteckende Krankheit hier in Spanien. Man wird high vom Krieg. Der Adrenalinrausch ist wie eine Droge. Irgendwann kommst du nicht mehr ohne aus, und am Ende bringt es dich um.«
»Das hat Joe auch immer
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