Die Wahrheit stirbt zuletzt
als Banalitäten heraus. Also wiederholt er noch einmal den banalen Satz, dass er sie liebt.
»Mmmmm …«, schnurrt sie.
»Und du?«
»Was meinst du?«
»Liebst du mich denn nicht?«
»Das fragt man nicht. Habe ich es dir nicht gerade gezeigt?«
»Doch.«
»Und ich tue es auch gerne noch einmal, Liebster.«
»Jetzt hast du es auch gesagt.«
»Nein. Habe ich nicht. Du hast doch auch nur gesagt, dass du es glaubst, stimmt’s? Dass du glaubst , dass du mich liebst. Du bist in mich verliebt. Und ich in dich. Das weiß ich. Ich wusste bereits, dass es so enden würde, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Die Art, wie du gelächelt hast. Die Art, wie du dagestanden hast, wie du dich bewegt hast und wie du deine Zigarette geraucht hast. Ich wusste, du würdest gut im Bett sein. Dass wir gut zusammenpassen würden. Aber das ist etwas anderes, nicht wahr? Was heißt es, jemanden zu lieben? Das ist schwer zu verstehen, wenn man es auf Spanisch sagt und hört. Auf Russisch klingt es anders und viel besser.«
Sie sagt schnell etwas in ihrer eigenen Sprache. Er versteht es nicht, aber ihm gefällt der musikalische Klang des Satzes. Russisch klingt exotisch und fremdartig, wie ein tiefer Gesang aus dunklen Bergen und zugefrorenen Flüssen.
Sie spricht auf Spanisch weiter: »Ich habe meine Mutter auf die russische Weise geliebt und war sehr traurig, als die Tuberkulose sie dahingerafft hat, aber meinen Vater liebe ich ganz besonders, auch wenn man das nicht sagen soll. Mein Papa ist der beste der Welt. Er ist so klug und stark. Als kleines Kind und junges Mädchen war es das Allerschönste für mich, wenn Papa Zeit hatte und mit mir in unserer Datscha spielte. Das ist eins von diesen Schrebergartenhäusern, wie wir Russen sie lieben. Es reichte mir vollkommen, dass er mit mir zusammen war und mir Märchen von Bären und Trollen erzählte, die im Wald wohnten, während meine Mutter das Essen vorbereitete. Aber Papa hatte immer viel zu tun. Und das hat er nach wie vor. Die Revolution ist noch jung und verlangt viel von den höchsten Parteikadern. Du weißt, was ein Kader ist, oder?«
Er nickt, sagt aber nichts, denn er will nicht, dass sie aufhört zu reden. Er würde sie am liebsten nach ihrem Vater und seiner Arbeit für die Henker beim NKWD fragen, aber er will die gute Stimmung nicht zerstören. Er fragt stattdessen, wo in Moskau sie wohne. Sie habe doch etwas von einem großen Haus am Fluss erzählt. Er liebt ihre melodische Stimme, die die spanischen Ausdrücke auf eine ganz spezielle Weise ausspricht, wie er sie noch nie zuvor gehört hat.
Sie rollt von ihm herunter, legt sich auf die Seite und sieht ihn, auf den Ellenbogen gestützt, an. Ihre eine Brust ruht warm auf seinem Arm. Sie streichelt seinen kaum behaarten Brustkorb und sagt mit einer etwas anderen, tieferen Stimmfärbung: »Es ist ein großes, großes Haus,das mit Blick auf den Kreml an der Moskwa liegt. Es ist ein großes Haus mit vielen, vielen Wohnungen. Es sind schöne, große Wohnungen, in denen die wichtigsten Männer der Partei und einige der bedeutendsten Künstler des Landes wohnen, Dichter und Komponisten. Es ist ein großes Privileg, in diesem Haus eine Wohnung zu bekommen. Wir haben acht Zimmer, und unsere Möbel wurden vom Kreml geliefert. Es gibt eine kleine Küche und zwei Badezimmer. Wir haben das ganze Jahr über warmes Wasser und nicht nur im Winter, wie es sonst in Moskau üblich ist. Wir wohnen mit Aussicht auf den Fluss und den Kreml, und auf der anderen Seite schauen wir in einen der Innenhöfe. Die Wohnung ist so groß, dass dort immer ein Zimmer für mich und meinen Bruder hergerichtet ist. Für unsere Haushälterin, die Papa von der Partei gestellt bekommt, ist dort ebenfalls Platz. Das Haus am Fluss dient als Modell für die Häuser, die später in der ganzen Stadt errichtet werden sollen. Das ist die Zukunft, sagen sie. Das Haus ist beinahe eine eigene kleine Stadt. Es gibt dort ein Theater, ein Kino, ein Gastronom, das ist ein Lebensmittelgeschäft, Kindergärten, eine Bank und eine Post. Ich wünschte, ich könnte es dir eines Tages zeigen.«
»Das glaube ich dir gern. Du bist eine schreckliche kleine Patriotin, meine Schöne«, sagt er.
Sie boxt ihn scherzhaft in die Seite, beugt sich über ihn, küsst ihn und sagt: »Ich liebe mein Land. Das stimmt. Es heißt jetzt UdSSR. Das ist auch völlig in Ordnung, aber wenn ich sage, dass ich mein Land liebe, dann meine ich Russland. Und zwar alles daran. Die Landschaft.
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