Die Wahrheit stirbt zuletzt
hoffen, dass sie lang ist. Ich glaube es zwar nicht, denn wir leben von geborgter Zeit, aber das ist alles, worauf wir in diesem Leben hoffen können.«
24
D ie nächsten Tage verschwimmen in Magnus’ Wahrnehmung, weil sie beinahe die ganze Zeit zusammen sind. Sie essen und lieben sich und reden. Manchmal hat ihr Sex etwas Verzweifeltes, aber meistens ist er voller Zärtlichkeit und Nähe und großer Leidenschaft. Sie reden viel miteinander, als müssten sie etwas Versäumtes nachholen, von dem sie aber gar nicht wissen, was es eigentlich ist. Sie entdecken einander jeden Morgen aufs Neue, glücklich darüber, nebeneinander aufzuwachen. Er ist sich nicht sicher, wie sie es empfindet, aber er hat so etwas noch nie erlebt. Es ist nicht nur der gute Sex, sondern es sind auch das Gefühl von Zusammengehörigkeit und ihre Gespräche, die ihn so froh und ungeahnt zufrieden machen.
Er kann ihr auf eine ehrliche Weise, die neu für ihn ist, von Mads und Marie und ihrer schrecklichen, angsterfüllten Kindheit erzählen. Er hat nie zuvor mit einem anderen Menschen so offen über sein Leben gesprochen. Und sie erzählt ihm von ihrer Sorge um das Schicksal ihres Vaters und ihres Bruders im fernen Moskau und von ihrer wunderbaren Kindheit, in der das Leben ihr wie ein einziger langer Sonnentag vorkam, ganz gleich, ob die Sonne geschienen oder ob es geschneit hat. Er kann sich nicht genug über das paradoxe Verhalten ihrer Väter wundern. Sein Vater ist Arzt und ein angesehener und geschätzter Heiler kranker Menschen und ihres Gemüts, aber seine eigenen Kinder hat er körperlich und seelisch misshandelt. Irinas Vater ist der geheime Sicherheitsoffizier, der die Feinde der Revolution gewiss mit viel Blut an den Händen bekämpfthat, während dieselben Hände seine Kinder zärtlich gestreichelt haben, wenn er aus den kalten Büroräumen oder vielleicht auch aus dem Folterkeller nach Hause kam.
Magnus wagt nicht, laut zu sagen, was er denkt. Irinas Vater und seine Situation sind ein Thema, auf das Irina so empfindlich und aggressiv reagiert, dass er jedes Mal fürchtet, sie könnte explodieren, wenn er es anschneidet. Wenn von dem NKWD-Oberst die Rede ist, wählt Irina ihre Worte mit Bedacht, und sie sind nicht immer klar und logisch. So ist es eben. Er muss erkennen und akzeptieren, dass sie beide Geheimnisse mit sich herumtragen, die sie in den hintersten Winkeln ihrer Herzen eingeschlossen haben, und dass sie noch nicht bereit sind, einander die Schlüssel dazu zu geben.
Sie erzählt davon, wie sie bei der Arbeit als Kriegsfotografin ihre Angst überwunden habe. Sie habe sich dazu gezwungen, mutiger und kühner aufzutreten als ihre männlichen Kollegen. Ihr Vater habe ihr immer eingebläut, dass ein wahrer Kommunist weder jammere noch Furcht zeige. Sie habe solche Angst gehabt, dass sie meinte, sterben zu müssen, aber nicht durch die Gewehrkugeln, sondern vor Angst. Das habe sie nie gezeigt und bisher nie zugegeben. Die harte Fassade diene ihr als Schutzschild. Sie schmiegt sich an ihn und genießt die schonungslose Offenheit, die sie sich in seiner Nähe erlaubt.
Sie vergessen den Krieg. Er ist ihnen gleichgültig. In einer kalten Zeit, in der die Frontberichte vor sich hin welken, leben sie in ihrem eigenen kleinen Kokon. Sie denken nur an sich und daran, zusammen zu sein. Das größte Tabu zwischen ihnen ist die Gewissheit der geborgten Zeit, die – obwohl Magnus es nicht wahrhaben will – die Grundlage ihrer Beziehung darstellt und die – das weiß Magnus – für Irina ein wesentlicher Bestandteil ihres leidenschaftlichen Glücks ist.
Er erzählt ihr nicht von Joe Mercer und dem Geheimnis der römischen Ruinen in Cartagena. Irgendetwas hält ihn zurück. Vielleicht sein schlechtes Gewissen. Vielleicht weil er ahnt, dass dieses Wissen sie nur unglücklich machen würde. Ein paar Mal ist er kurz davor, diese schleimige Schlangengrube zu öffnen, aber im letzten Moment bremst er sich selbst, und sie bemerkt nichts davon.
Sie verlassen das Bett eigentlich nur, um zu essen und in der tristen Stadt ein wenig frische Luft zu schnappen. Die Winterkälte ist über die iberische Halbinsel hinweggezogen und hat ihre klammen Finger auch auf Albacete gelegt, aber in ihrer Höhle im Hotel ist ihnen das vollkommen gleichgültig. Maria Immaculada und Alfonso, der an der Rezeption steht, schenken ihnen stets ein freundliches, einverstandenes Lächeln und schicken ihnen etwas zu essen und zu trinken aufs Zimmer und sorgen
Weitere Kostenlose Bücher