Die Wahrheit stirbt zuletzt
dafür, dass sie warmes Wasser haben und ihre Heizung funktioniert. Ihre Liebe scheint den Menschen mitten im grauen Kriegswinter Freude und ein Lächeln zu schenken. Großzügige Trinkgelder tragen sicher ebenfalls dazu bei, dass ihnen sowohl diese Bedienung als auch die gewünschte Ungestörtheit zuteilwird. Jedes Mal, wenn Magnus sich von Joes Geld bedient, versetzt ihm sein schlechtes Gewissen einen Stich, aber er bezahlt trotzdem weiterhin damit.
Sie feiern Silvester, ohne das Hotel zu verlassen. Sie nehmen ein relativ gutes Abendessen zu sich, das ein Vermögen kostet, weil die Zutaten vom Schwarzmarkt stammen. Im Speisesaal hat man runde Tische in verschiedenen Größen aufgestellt. Sie bekommen einen kleineren für sich allein. An den anderen Tischen in dem halb leeren Saal sitzen Offiziere und Schwarzmarkthändler im Smoking und Politiker, die ihre Frauen weitgehend ignorieren und sich stattdessen wissend über die Intrigen in Valencia und Barcelona unterhalten sowie über die unsichere Situation inMadrid. Alle scheinen sich einig zu sein, dass in den Städten, so auch in Albacete, Tausende von Menschen nur darauf warten, Franco willkommen zu heißen. Diese Verräter bilden eine gefährliche Fünfte Kolonne in ihrer Mitte und müssen aufgespürt und beseitigt werden. Die ersten vorsichtigen Andeutungen, es könnte möglicherweise ein Waffenstillstandsabkommen geben, werden mit diplomatischer Distanziertheit ventiliert. Denn der Sieg steht ja schon vor der Tür, nicht wahr? Aber dennoch? Sollte man vielleicht doch beginnen, neu über die Zukunft nachzudenken?
Trotz des vielen Alkohols kommt die Stimmung nicht richtig in Schwung. Außerdem ist es ziemlich kühl in dem Ballsaal mit den hohen Decken.
Magnus hält nach Pandrup Ausschau und fragt einen schwedischen Kommissar nach ihm, erfährt aber nur, dass er zwar nach Albacete zurückgekehrt, im Moment jedoch nicht zu sprechen sei.
Tove ist auch da. Sie begrüßen einander freundlich, aber der Blick, mit dem sie Irina ansieht, sagt alles, und sie sprechen nicht weiter miteinander, auch wenn er nichts lieber täte, als nach Mads zu fragen und ob sie nicht doch eine Ahnung habe, wo er sich befinde. Tove ist in Begleitung eines norwegischen Freiwilligen, der schon nach einer Stunde völlig betrunken ist.
Nach dem Essen wird getanzt. Es spielt ein kleines, eher zurückhaltendes Orchester. Dennoch tanzen Magnus und Irina lange im Kreis herum, während die Uhr auf Mitternacht zugeht und alle mit Champagner anstoßen. Irina trinkt zu viel Champagner und stolpert beinahe, als sie nach oben in ihr Bett gehen, um sich betrunken zu lieben, während der Lärm vor ihrem Fenster immer lauter wird.
Auch wenn es verboten ist, heißt man das neue Jahr 1938 mit Gewehrschüssen in den kalten grauen Himmel willkommen.Und einige Tage nach Neujahr explodiert der Himmel über der Stadt dann richtig.
Magnus hat das Hotel verlassen, um bei seinem festen Lieferanten, dem einbeinigen Messerverkäufer, Schwarzmarktzigaretten zu besorgen, als die Sirenen mit ihrem gellenden steigenden und fallenden Ton die Luft zerschneiden. Er hört, wie unten am Bahnhof die ersten Luftabwehrbatterien das Feuer auf die Flugzeuge eröffnen, die in Bomberformation aus Richtung Westen angeflogen kommen.
Irina wollte nicht mitkommen, was ihn ein wenig gewundert hat. Normalerweise liebt sie ihre gemeinsamen Spaziergänge durch die Stadt, aber seit dem gestrigen Tag ist sie in einer merkwürdig rastlosen Stimmung. Sie murmelte irgendetwas von Frauendingen, die ihn nichts angingen, und verschwand im Badezimmer, ohne ihn zum Abschied zu küssen. Er muss dringend Zigaretten holen. Sonst haben sie bald keine mehr, und dann ist sie erst recht gereizt.
Magnus hat sein Geschäft mit dem Schwarzmarkthändler vor der Stierkampfarena abgeschlossen und die Zigarettenpäckchen in seine Schultertasche gestopft, als er die deutschen Maschinen über die Stadt fliegen sieht. Es sind neue schwere Junker-52-Bomber aus der Legion Condor. Er kann sich vorstellen, wie die Piloten während des Anflugs über die flache kastilische Steppe schon aus weiter Entfernung den Turm der Kathedrale, die niedrigen Häuser, den Bahnhof, die hohen Gebäude im Zentrum und die vielen kleinen Handwerksbetriebe sehen, die über die ganze Stadt verstreut sind. Über den Bombern kreisen die Jagdflugzeuge, die sie beschützen, aber die Luftwaffe der Republik glänzt wie immer durch Abwesenheit, auch wenn im Luftwaffenstützpunkt Los Llanos
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