Die Wahrheit stirbt zuletzt
geschlossenen Wagen zum Haus am Fluss und nehmen Leute mit, die man dann nie wieder sieht. Niemand unternimmt etwas dagegen. In den Wohnungen brennt Licht, aber es lebt dort niemand mehr. Die Überlebenden verhalten sich ruhig und wagen nicht, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Sascha schreibt, dass dies vermutlich das Letzte sei, was ich von ihm hören würde. Er geht davon aus, dass auch er bald von einemschwarzen Wagen abgeholt wird, und dann ist es vorbei. Ach, Magnus. Es ist so entsetzlich.«
Sie beginnt wieder zu weinen. Magnus sagt nichts, sondern hält sie nur im Arm und lässt sie weinen. Er spürt, wie ihr Weinen und ihr Zittern langsam schwächer werden, und als sie wieder ruhig daliegt, fragt er leise: »Wie lange hast du das schon gewusst, Irina?«
»Ich habe es in Wirklichkeit schon seit Langem geahnt. Ich habe es nur verdrängt. Das ist das Einfachste.«
»Aber so etwas kann man doch nicht mit sich selbst ausmachen. Das wächst doch in dir wie ein Krebsgeschwür.«
»In meinem Land machen das Millionen von Menschen mit sich aus, weil wir diese Geschichten nicht glauben wollen. Wir erfinden immer wieder neue Entschuldigungen. Das ist bürgerliche Propaganda, das ist übertrieben, sie erhalten nur ihre gerechte Strafe, es wird bald wieder aufhören, sagen wir uns. Stalin weiß nicht, was da in seinem Namen passiert, geben wir einander ohne Worte zu verstehen. Wir machen uns alle zusammen etwas vor. Sieh mich doch an. Ich bin die lustige und wagemutige Irina, die den Tod nicht fürchtet. Ich kann trinken und tanzen und herumvögeln und eine schlagfertige Bemerkung nach der anderen abfeuern, aber das ist nur Fassade. Innen drin bin ich die ganze Zeit nichts anderes als ein kleines Mädchen, das weint und Angst hat, weil es weiß, dass das Ganze so fürchterlich aus dem Ruder läuft. Es hat nichts mehr, woran es glauben kann, es kann nicht mehr an den Sozialismus glauben. An all das, woran zu glauben es erzogen wurde. Das ist sehr schmerzhaft.
Mein Bruder hat einmal zu mir gesagt, dass es absurd sei, eine Revolution machen zu wollen, indem man die bestehenden Regeln befolge. Erst müsse alles beseitigt werden. Die Revolution hat viele Feinde, nicht wahr? Wir lesen in der ›Prawda‹, dass ein neuer Volksfeind hingerichtet wurde, und wir klatschen vor Begeisterung in dieHände, weil wir lesen dürfen, dass er seine Verbrechen gegen den Staat gestanden hat, während es uns innerlich vor Entsetzen schaudern lässt. Im Moment geht es um ausländische Verschwörungen gegen die Revolution. In meinem Land wimmelt es anscheinend nur so von ausländischen Agenten und Provokateuren. Es gibt niemanden, der es wagt, etwas zu sagen oder zu unternehmen. Nicht einmal Papa. Es ist genau so, wie Sascha schreibt. In den Bussen in Moskau hängt ein Schild an den Fenstern. Bitte nicht hinauslehnen, steht dort. So verhalten wir uns auch unter Stalin. Bitte nicht den Kopf herausstrecken, sonst wird er abgeschlagen. Es ist einfach nur hoffnungslos, Magnus.«
Jetzt versteht er besser, warum sie sich so anders benommen hat, seit er aus Cartagena zurück ist. Unter der hartgesottenen Oberfläche, die alle Presseleute als Image ihres Berufes pflegen, als sei sie Teil einer unsichtbaren Uniform, hat es bei ihr eine Unterströmung unterdrückter Angst gegeben. Sie ist auch exaltierter als sonst gewesen und hat viel mehr getrunken. Sie verträgt eine Menge, aber ihr Trinken hat etwas Verzweifeltes gehabt, denkt er und erinnert sich daran, wie aufgedreht und hektisch sie während des Galaabends gewesen ist. »Du kannst bei mir bleiben«, sagt er.
»Ich kann Papa nicht im Stich lassen, verstehst du das nicht?«
»Doch, aber deshalb kannst du doch trotzdem bei mir bleiben. Ich kann auf dich aufpassen.«
»Das weiß ich. Deswegen ist das Ganze ja so hoffnungslos. Ich weiß, dass du mich liebst. Das spüre ich. In einem anderen Leben könnten wir heiraten, aber nicht in diesem. Ich kann keinen Ausländer heiraten, sonst landet Papa im Gefängnis. Wir können unsere Liebesmomente miteinander teilen, aber das ist alles, wovon wir träumen dürfen. Die Liebe tut so verdammt weh. Ich habe mir geschworen,mich nie wieder ernsthaft zu verlieben, aber jetzt habe ich es doch getan, und es tut so entsetzlich weh, Magnus. Es fühlt sich an, als würde meine Seele in tausend Stücke gerissen.«
»Ich lasse dich nicht los.«
»Ich weiß, mein Geliebter. Aber das wirst du müssen. Wir müssen die Zeit genießen, die wir zusammen haben, und
Weitere Kostenlose Bücher