Die Wahrheit stirbt zuletzt
hinterher, bevor er ihre Arme zu fassen bekommt und sie festhält. Sie weint jetzt heftig. Ihr selbstsicherer Panzer ist verschwunden, und er weiß nicht, wie er sie trösten soll.
Sie ist stark, aber sie kann sich nicht losreißen. Sie spuckt ihn an, aber er lässt ihre Arme nicht los, bis er merkt, dass sie aufhört, Widerstand zu leisten. Ihr Gesicht ist eine hässliche, verzerrte Fratze, und ihre Augen sind rot und geschwollen. Er spürt ein Brennen unter seinem rechten Auge, wo ihr erster Schlag ihn getroffen hat.
Als er sie loslässt, überrascht sie ihn wieder. Sie sinkt auf der Stelle in sich zusammen, als wäre ihr Körper eine mit Luft gefüllte Hülle, aus der die Luft jetzt viel zu schnell entweicht. Sie dreht sich einmal um ihre eigene Achse und geht dann in die Hocke, wobei sie die Arme um ihren Körper schlingt und dabei lautlos weint.
Er weiß nicht, was er tun soll. Er hat noch nie einen Menschen auf diese unwirkliche und verletzliche Weise in sich zusammensinken sehen. Handelt es sich vielleicht umein Kriegstrauma, das jetzt plötzlich aufbricht? Wenn er es doch nur wüsste. Er weiß nicht, was sie auf dem Schlachtfeld gesehen hat. Oder war es etwas, das er gesagt hat? Waren es seine Worte über den Vater, die das Ganze ausgelöst hatten? Er kann nicht begreifen, dass sie immer noch derselbe Mensch ist, der sich ihm vor wenigen Minuten in leidenschaftlicher Ekstase hingegeben hat. Er sieht auf den zitternden, nackten Körper hinunter und wird von großer Zärtlichkeit erfüllt, die über die heftige Wut siegt, die wie üblich sofort in ihm aufgestiegen war. Irina sitzt da wie ein kleines Kind.
Er beugt sich zu ihr hinunter und zieht sie sanft nach oben, sodass er sie unter den Beinen und den Schultern zu fassen bekommt. Er hebt sie hoch und trägt sie zum Bett hinüber. Sie leistet jetzt keinen Widerstand mehr. Ihr Kopf hängt erst schlapp herunter, dann legt sie ihn auf seine Schulter. Er spürt ihre Tränen, aber sie weint vollkommen lautlos. Er legt sie auf das Bett und breitet das Laken und die Wolldecke über sie, bevor er sich neben sie legt, sie umarmt und sie vorsichtig an sich drückt. Er weiß nicht, wie lange sie so daliegen, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, weil er noch immer nicht begreift, was eigentlich passiert ist.
Zuerst zittert sie unkontrolliert, und ihr verschwitzter Körper ist eiskalt. Aber langsam kehrt die Wärme wieder in sie zurück. Sie hat die Augen geschlossen und liegt ganz still da. Er glaubt, sie sei eingeschlafen, aber dann sagt sie flüsternd und beinahe tonlos, ohne den Kopf zu heben oder die Augen zu öffnen: »Es ist wegen meines Bruders. Es ist wegen Sascha. Vor einer Woche habe ich einen Brief von ihm bekommen. Wie du dich vielleicht erinnerst, ist mein großer Bruder Offizier bei der Roten Armee. Er leistet seinen Dienst in Rostow. Dort ist ein Militärflugplatz, und einer seiner Kameraden, der jetzt nach Spanien geschickt wurde, um die Kämpfenden zuunterstützen, hatte einen Brief für mich dabei. Es war ein schrecklicher Brief, Magnus.
Sascha ist Patriot und Mitglied der Partei. Sascha ist dem großen Stalin treu ergeben, aber in diesem Brief, der ja nicht durch die Zensur muss, schreibt er die furchtbarsten Dinge. Seine Offizierskameraden verschwinden. Sie werden verhaftet und schon am nächsten Tag hingerichtet. Man beschuldigt sie, Volksfeinde zu sein. Das genügt bereits. Das ist ein Todesurteil. Was ist aus unseren sozialistischen Idealen der Rechtssicherheit geworden? Er schreibt mir jetzt, weil sein bester Freund Loscha tot ist. Ich habe Loscha gut gekannt. Er ist mit uns zusammen aufgewachsen. Er war ein großer sowjetischer Patriot und stolz, ja, so unglaublich stolz, als er Offizier wurde.
Eines Morgens holten sie Loscha ab und brachten ihn nach Moskau. Drei Tage später hat er gestanden, eine Meuterei in seiner Kompanie und ein Attentat auf Stalin geplant zu haben. Das ist vollkommen absurd. Loscha würde so etwas niemals tun. Er wurde im Keller der Lubjanka erschossen. Das ist das Hauptquartier des NKWD, falls dir das nichts sagt. Loscha ist tot. Ich begreife es nicht. Es ist unfassbar und unerträglich. Sascha hat Vater aufgesucht. Er wollte zu Loschas Gunsten aussagen, aber Vater hat nur gesagt, das sei keine gute Idee. Sie hätten sich gestritten, schreibt er. Vater sei bleich und verschlossen und abweisend gewesen, als sei er dem Teufel persönlich begegnet. Als sei nicht einmal er noch sicher.
Nachts kommen die schwarzen,
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