Die Wahrheit stirbt zuletzt
der leisen Aggressivität der Stimmen erkennt sie, dass sich Unfrieden hinter den deutschen Sätzen verbirgt. Meyers Stimme ist ebenso gedämpft wie die des Chefarztes, aber trotzdem befürchtet Marie eine Explosion.
Der Chefarzt sieht Magnus stumm an und sagt nach einer Weile in merkwürdig resigniertem Ton: »Warum müssen wir Dänen denn in die Weltpolitik hineingezogen werden? Warum, Magnus? Das führt doch zu nichts. Es nützt uns mehr, uns hier um unsere eigenen Angelegenheitenzu kümmern, unser Leben anständig und tätig zu verbringen und uns nicht in irgendwelche Abenteuer zu stürzen.«
»Nein. Und das tun wir ja auch nicht. Was ist es denn, was die Politiker in Dänemark und anderswo feige beschlossen haben? Nicht zu intervenieren, während Italien und Deutschland Franco ganz unverhohlen unterstützen.«
»Das ist vermutlich das Beste. Dass wir uns aus dem Ganzen heraushalten. Was sollen wir mit diesem Unfrieden? Ich wusste im Übrigen gar nicht, dass die Welt dich überhaupt interessiert.«
»Die Welt ist jetzt nun mal in unsere Mitte gerückt, nicht wahr?«, sagt Magnus.
»Ja. Und wozu das alles? Hier in Dänemark ist uns am besten damit gedient, wenn wir uns aus der Welt raushalten.«
Meyer sieht ihn an. Er kann nicht anders, als Mitleid mit seinem Vater zu empfinden. Der Chefarzt versucht ganz offensichtlich, seine Trauer zu verbergen, aber Magnus kann in seinen Augen mühelos den Schmerz erkennen – ja, sogar auf seinem ganzen Gesicht.
Marie sieht diesen Schmerz ebenfalls. Ihre Augen sind feucht, als sie auf Dänisch sagt: »Magnus hat versprochen, Mads nach Hause zurückzuholen, hörst du, Vater? Alles wird gut werden. Jetzt ist Magnus nach Hause zurückgekehrt, und er wird uns bestimmt auch Mads wieder zurückbringen. Nicht wahr, Magnus?« Sie schaut von einem zum anderen.
Magnus nickt, während der Chefarzt wegschaut.
Doktor Krause rettet die Situation für ihn. Er blickt von Marie zu Magnus und sagt in einem Deutsch, das nur so schmettert: »Wir haben dem großen General Franco zu danken. Er und seine mutigen Helfer setzen ihr Leben aufs Spiel, um ihr Vaterland von den jüdischen, kommunistischen Verbrechern zu befreien. Als deutscher Nationalsozialistbin ich stolz darauf, dass mein Führer sich entschieden hat, einen so großen Mann wie Franco zu unterstützen.«
»Ist es etwa die Bombardierung Guernicas Ende April, der Tod jener unschuldigen Menschen also, die an einem schönen Morgen wie üblich auf den Markt gingen, um dort von deutschen Stukas niedergeschossen zu werden, an die Sie denken und auf die Sie so stolz sind, Doktor Krause?«, fragt Magnus. Seine Stimme ist nach wie vor ruhig, aber Marie kennt ihn und weiß, dass er wütend ist und sich nur zusammennimmt – vielleicht ist Krause sich dessen ebenfalls bewusst.
Krause sieht ihn an, sein Adamsapfel bewegt sich auf und ab, als er einmal kurz schluckt, bevor er antwortet: »Ach, junger Mann. Lassen Sie uns nicht streiten. Das ist doch bolschewistische Propaganda. Diese baskische Stadt war der Hauptsitz kommunistischer Banditen. Unsere tapferen Flieger haben nur ihre Pflicht getan, wie der Führer es ihnen befohlen hat. Sie werden sehen. Die Geschichte wird zeigen, dass ich recht habe.«
Marie sagt schnell: »So, jetzt kommt der Hauptgang. Wie schön.«
Aber es ist Fräulein Jørgensen, der es gelingt, die unangenehme Situation zu beenden, bevor sie sich zu einem handfesten Streit entwickelt, als sie in langsamem, aber korrektem Deutsch spricht, als habe sie den Satz lange einstudiert und als sei nun der richtige Zeitpunkt gekommen, ihn zu Gehör zu bringen: »Doktor Krause, bitte . Darf ich Sie um Ihre Meinung zu dem Patienten mit dem rezidivierenden Magengeschwür bitten, den Sie heute untersucht haben. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber dieser Mann hat jüdisches Blut in seinen Adern. Kann das einer der Gründe für seine schwachen Abwehrkräfte sein?«
Krause richtet sich auf seinem Stuhl auf, und sein rundes Gesicht scheint zu strahlen. Magnus hört nur mithalbem Ohr zu und betrachtet stattdessen den Chefarzt, der sich erstaunlicherweise ebenfalls in einer anderen Welt zu befinden scheint. Oder vielleicht hat er Krauses Vortrag über die Überlegenheit der arischen Rasse auch schon so oft gehört, dass er ihn einfach nicht mehr interessiert.
Zum ersten Mal wird Magnus bewusst, dass sein Vater sterblich ist. Unter der harten Schale meint er einen zerbrechlichen Körper wahrzunehmen, der sich durch bloße
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