Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
Mann entwickelte, am meisten an sich selbst gedacht hat, an sein eigenes Überleben, an seine Gelüste und Bedürfnisse.
    Der Zigarrenrauch scheint in der Luft stillzustehen. Er schaut zum Sanatorium hinüber und stellt sich vor, dass die Patienten dort in ihren Zimmern schlafen und wie sich die unsichtbaren Duftfäden, die Reste der heilenden Chemikalien und obskuren Kräutermischungen, in den langen, dunklen Korridoren zu dichten Bändern verweben, die niemand sieht. Man meint, die Düfte wären weg, sobald man die Deckel wieder sorgfältig auf die Gläser und Flaschen geschraubt hat, Magnus dagegen stellt sich die Düfte als lebende Organismen vor, die im Schutze der Dunkelheit durch die kleinsten Ritzen dringen.
    Als Kind hatte er sich unter der Treppe versteckt, die zur Villa hinaufführt, wenn der Vater mal wieder mit demKleiderbügel hinter ihm her gewesen war, und hatte komplizierte Mordpläne geschmiedet, während er sich vorstellte, wie Gespenster lautlos über den Linoleumboden schwebten, die Korridore entlang, weiße oder graue Gestalten, die im Nachtdunkel stumme Schreie ausstießen. Er hatte sich vorgestellt, wie sie sich im großen, in Zigarrenduft gehüllten Büro seines Vaters versammelten und ihn langsam strangulierten, sodass am Ende nur noch der entsetzte Schrei des Vaters zu hören war.
    Es schaudert Magnus. Unter der Treppe, wo sich das Herbstlaub anzusammeln pflegte, hatte es nach Verwesung und Tod gerochen. Er sieht, wie an einem der Fenster des Sanatoriums für einen Moment eine Gestalt auftaucht, um dann genauso plötzlich wieder zu verschwinden. Der Anblick der beinahe durchsichtigen Frauengestalt lässt Magnus frösteln, und für einen Augenblick fällt er in seinen Kinderglauben an das Übernatürliche zurück. Er weiß, dass es sicher nur die Nachtschwester war, die vielleicht seinen glühenden Zigarrenstummel im Dunkeln gesehen hat, aber das dämpft keineswegs die Furcht, die auf einmal sein Herz erfüllt. Er spürt den Wein und die beiden großen Gläser Cognac, die er viel zu schnell getrunken hat. Er hört Schritte hinter sich, spürt eine Hand auf seiner Schulter und zuckt zusammen.
    »Entschuldige. Habe ich dich erschreckt?«, fragt Marie und zieht ihre Hand zurück.
    »Nein, Schwesterherz. Oder doch. Ich war in Gedanken.«
    »Und die waren nicht schön?«
    »Können sie das in diesem Haus überhaupt sein? Kannst du dich noch daran erinnern, wie er mich bestraft hat? Mit Ohrfeigen. Mit denen konnte man leben. Dann gab es noch den Bügel. Der war schlimmer, aber man hat ihn ebenfalls überlebt. Die eigentliche Strafe kam danach. Eine Woche Schweigen. Zwei Wochen Schweigen. EineKälte, die einen großen See in einer heißen Wüste zu Eis erstarren lassen könnte. Wir Menschen sind wie Herdentiere. Das Schlimmste, was man uns antun kann, ist, uns von der Herde zu isolieren.«
    Sie steht da, ohne etwas zu sagen. Sie hat sich eine hübsch gemusterte Stola über die Schultern gelegt und zieht an einer Zigarette. »Für Verbitterung ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, sagt sie, und ihre Stimme klingt dünn und schwach.
    Er dreht sich zu ihr um und schaut sie an: »In den USA gibt es eine merkwürdige christliche Sekte, die sich Amish People nennt. Ich habe sie im Staat Pennsylvania erlebt. Sie leben so, wie ihre Vorfahren es bereits vor dreihundert Jahren getan haben. Sie benutzen nur Pferde und keine Automobile, sie haben keine Telefone oder Radios wie die meisten anderen Amerikaner, in ihren Häusern haben sie keinen Strom. Sie beackern die Erde auf dieselbe Weise wie ihre Vorfahren. Sie sind sehr gläubig. Sie sind gegen Krieg und Gewalt und erheben niemals die Hand gegen ihren Nächsten. Ihre Lebensweise soll möglichst einfach sein. Auf Amerikanisch heißt das ›plain‹. Wenn ein Mitglied ihrer Sekte die gemeinsamen Regeln und Gesetze bricht, wird es ›shunned‹, das bedeutet isoliert. Niemand darf dann mit dir sprechen, in der Kirche oder am Frühstückstisch darf niemand neben dir sitzen. Du bist einsam und allein zwischen all den anderen. Das kann Menschen in den Wahnsinn treiben. Selbstmord ist eine Sünde, aber dennoch gibt es Menschen, die sich dafür entscheiden, um diese Form der Isolation nicht ertragen zu müssen. Als ich davon hörte, habe ich sie sofort verstanden.«
    Sie sagt nichts, hakt sich aber bei ihm ein und lässt ihn fortfahren.
    »Kannst du dich nicht daran erinnern, wie raffiniert er war? Ich habe den ganzen Unsinn und die verbotenen Sachen gemacht,

Weitere Kostenlose Bücher