Die Wahrheit stirbt zuletzt
Willenskraft am Leben hält. Wie Magnus isst auch der Vater nur wenig. Das Essen schmeckt eigentlich nicht schlecht, aber es schmeckt leider nach nichts anderem als ein wenig Salz und Pfeffer. In diesem Essen steckt keinerlei Tango oder Salsa, denkt er. Die kleinen Spargelstückchen in der weißen Soße, die mehligen, weichen Kartoffeln und das faserige Hühnerfleisch. Er hatte diese Mischung ganz vergessen und findet sie seltsam. Den Vater dagegen scheint eher die Nahrungsaufnahme als solche Überwindung zu kosten. Er hält sich nur am Leben, weil er seine Patienten nicht im Stich lassen will, denkt Magnus. Diskret wirft er auch einen Blick auf Krauses mahlenden Kiefer und seinen hüpfenden Adamsapfel, während dieser mit gutem Appetit isst und gleichzeitig von seinen Studien der verschiedenen Rassen berichtet. Krause verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, in Zukunft die Unterschiede und die Mängel der niederen Rassen auch in praktischer Hinsicht erforschen zu können, um sie dann wissenschaftlich zu dokumentieren.
Meyer hat große Lust, ihn zu unterbrechen und zu fragen, wie es denn bloß passieren konnte, dass die überlegenen arischen Läufer des geliebten Führers im vergangenen Jahr bei den Olympischen Spielen in Berlin vom Neger Jesse Owens mit einem so gewaltigen Abstand auf die Plätze verwiesen wurden. Aber er hat nicht die Kraft dazu. Er schaut zum Chefarzt hinüber, der zustimmendnickt und einen kleinen Bissen von seinem Essen nimmt, und zu Marie, die sich, wie er unschwer erkennen kann, beherrschen muss, um nicht wütend zu werden, und die nur aufgrund ihrer guten Erziehung davon Abstand nimmt, Krause zu unterbrechen. Fräulein Jørgensen nickt eifrig vor sich hin wie ein trinkendes Huhn. Sie ist mit Doktor Krauses weisen Worten sehr einverstanden und fühlt sich darin bestätigt, dass in Deutschland wahrlich eine neue und segensreiche Ordnung Einzug gehalten hat.
4
E s ist Nacht, und die Luft ist kühl. Magnus Meyer steht auf der Terrasse und raucht eine Zigarre, und er meint zu spüren, wie sich die Kälte oben am sternenklaren Himmelszelt bereit macht, langsam auf die Erde hinabzuschweben und sich wie ein Eisteppich über das Land zu legen. Der Herbst naht mit Riesenschritten. Verfall und Verwesung lauern überall.
Er muss hinaus. Krause hat dem guten Cognac des Chefarztes etwas zu sehr zugesprochen, und sein noch immer andauernder verworrener Vortrag über die arische Rasse und die Genialität des Führers geht Meyer auf die Nerven. Es ärgert ihn, dass sowohl der Chefarzt als auch Fräulein Jørgensen von den vermeintlichen Segnungen der neuen Weltordnung fasziniert zu sein scheinen. Die Depression, die in einem großen Teil der Welt herrscht, führt dazu, dass die Menschen nach den einfachen Lösungen greifen. Der Mensch will erlöst werden, koste es, was es wolle, denkt er und betrachtet die rote Glut der Zigarre.
Seine Gedanken wandern zu seinem kleinen Bruder, der vielleicht in diesem Moment in seinem Schützengraben zum selben Himmel aufschaut und nach denselben Sternbildern Ausschau hält. Er war es gewesen, der dem kleinen Mads die verschiedenen Sternbilder erklärt hatte. Vielleicht liegt Mads jetzt in Spanien in der nächtlichen Dunkelheit und schaut zum Polarstern hinauf und damit zugleich in Richtung Heimat. Vielleicht denkt er in diesem Augenblick an seinen großen Bruder. Vielleicht.
Magnus vermisst seinen kleinen Bruder so sehr, dass es beinahe wehtut. Natürlich hat er in den vergangenen fünfJahren an ihn gedacht, aber eher sporadisch. Die Gedanken an Mads waren oft durch einen Duft ausgelöst worden, der einen Erinnerungsstrom in Gang gesetzt hatte. Durch den Duft von warmer Milch oder ebenso häufig von Karbol oder Schwefel, Äther oder den eigenartigen, strengen Geruch, der beim Bestrahlen entsteht.
Im New Yorker Stadtteil Harlem gab es eine Frau, die nach Zimt und Honig duftete, und immer wenn er nach dem Sex mit ihr im Bett lag, musste er daran denken, wie der kleine Mads Milchreis gegessen hatte. Er fand diese Erinnerung auf eine merkwürdige Weise unmoralisch und bedrängend, aber sie tauchte immer wieder auf, ob er wollte oder nicht. Magnus würde jederzeit unumwunden zugeben, dass er eher selten an Mads und Marie gedacht hat und dass diese Gedanken ihn auch nicht allzu tief berührt haben. Hier im Herbstdunkel, in dem das Sanatorium wie ein stilles, gestrandetes Schiff vor ihm liegt, weiß er, dass er in jenen Jahren, in denen er sich von einem unreifen Jungen zu einem
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