Die Wahrheit stirbt zuletzt
jetzt soll er auf einmal selbst vor Gericht gestellt werden. Das bedeutet, dass wirklich niemand mehr sicher ist.«
»Stalin vielleicht.«
»Vielleicht nicht einmal er. Vielleicht weiß Kamerad Stalin gar nicht, was da vorgeht.«
»Vielleicht steckt Stalin aber auch hinter dem Ganzen?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, aber ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll. Es ist einfach nichts mehr sicher. Alles scheint den Bach runterzugehen. Es ist unerträglich. Es ist, als ginge mitten am Tag die Sonne unter.«
»Und was hat das alles mit dir zu tun?«, fragt Magnus und muss daran denken, dass André in Spanien beinahe die gleichen Worte benutzt hatte.
»Als ich heute Morgen ins Hotel zurückkam, habe ich nach unseren Papieren gefragt. Deine liegen für dich bereit. Du kannst sie an der Rezeption abholen, aber meinesind noch nicht von der zuständigen Behörde zurückgekommen. Das gefällt mir gar nicht.«
»Mir auch nicht.«
»Mein deutscher Freund hat mir erzählt, dass ich überwacht werde. Dass das NKWD noch überlegt, wie es mit mir umgehen soll. Es ist bewundernswert, dass er sich überhaupt traut, mir das zu sagen. Es kann ihn das Leben kosten, mich zu warnen, aber er hat es getan. Für ihn ist alles noch viel schlimmer. Er kann ja nirgendwo anders hin. Wenn er in seine Heimat zurückkehrt, nimmt ihn die Gestapo auf der Stelle fest. Er hat keine andere Wahl, als in Moskau zu bleiben und das Beste zu hoffen. Es war wirklich mutig, dass er mir das alles erzählt hat. Er hat gesagt, dass das NKWD mich für einen Spion hält. Ich hätte die Seiten gewechselt. Ich hätte meine Seele an die Kapitalisten verkauft. Und Spione darf man ja wohl noch festnehmen, nicht wahr? Das tut man doch überall auf der Welt. So ist es doch, Magnus. Alle Länder haben Spione und alle Länder haben Gesetze, die Spionage verbieten. Ich sitze verdammt noch mal in der Falle.«
»Aber warum haben sie dir dann überhaupt ein Visum erteilt?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Vielleicht, um mich in die Falle zu locken. Und du hast ihnen eine günstige Gelegenheit dazu geliefert. Sonst hätten sie mich vielleicht zu einem kameradschaftlichen Gespräch hierher eingeladen. Vielleicht wollen sie mich gegen Arne verwenden. Ich glaube, das ist es, was dahintersteckt, wenn sie mich festnehmen sollten. Wenn Arne tatsächlich parteischädigendes Verhalten oder Antisowjetismus oder Trotzkismus zur Last gelegt wird, dann wird man auf jeden Fall gegen ihn verwenden, dass er mich kennt – ja, mich vielleicht sogar als seinen Freund ansieht. Als ich jung war, habe ich ihn sehr bewundert, obwohl er gar nicht so viel älter ist als ich. Arne ist 1904 geboren, aber er ist der Sohneines Professors, und das merkt man ihm an. Er ist ein Mann des Wortes. Wir waren Verbündete und haben in den Diskussionen oft dieselbe Meinung vertreten. Auch wenn es um Spanien ging und darum, wie wichtig es ist, an der Volksfrontstrategie festzuhalten. Und Arne ist in Dänemark mehrfach mit Aksel Larsen aneinandergeraten. Aksel kann es gar nicht leiden, wenn man seine eigene oder die Politik Stalins kritisiert. Ich befinde mich hier also in der Höhle des Löwen. Verstehst du?«
»Ja, klar. Wir müssen zur dänischen Botschaft gehen, bevor es zu spät ist. Die Botschaft muss dir neue Papiere ausstellen. Geld spielt keine Rolle. Das weißt du.«
»Magnus, du kennst dieses Land nicht. Eines der allerersten Wörter, die man auf Russisch lernt, ist das Wort Propusk. Es bedeutet so etwas wie Genehmigung. Die Genehmigung, irgendwo zu wohnen, die Genehmigung, in einem bestimmten Geschäft einzukaufen, die Genehmigung, in einem bestimmten Abteil in einem bestimmten Zug zu fahren, die Genehmigung, in diesem Hotel abzusteigen, die Genehmigung umzuziehen, die Genehmigung zu heiraten, seine Arbeitsstelle zu wechseln, zur Kur zu fahren, einen Pass oder eine Wohnung zu bekommen, Urlaub zu machen oder was weiß ich. Und vor allem natürlich die Genehmigung, in die Sowjetunion ein- oder auszureisen. Die dänische Botschaft kann mir einen neuen Pass ausstellen, aber sie kann mir nicht den Propusk geben, das Land zu verlassen.«
»Ich muss dem NKWD wirklich recht geben, Svend. Du klingst immer antisowjetischer.«
»Darüber macht man keine Witze, Magnus. Das ist überhaupt nicht lustig. Und du solltest dich übrigens auch nicht allzu sicher fühlen.«
»Was meinst du damit? Meine Papiere sind doch in Ordnung, oder?«
»Ja. Du hast einen Pass. Und du hast ein
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