Die Wahrheit stirbt zuletzt
seinen heilen Arm berührte. Svend besaß wirklich ein großes Talent, seinen Willen durchzusetzen. Er konnte seinen Charme nach Belieben an- und ausknipsen. Sie nahm ihn auf ihrem eigenen Passierschein, ihrem Propusk, mit. Und so gelangte er hinein.
Im Hotel quartierte die Komintern Kommunisten aus der ganzen Welt ein, die zur Bewegung gehörten. Hier versammelte sich die Elite, die die Theorien von der Volksfront mit den progressiven Kräften im Kampf gegen die Faschisten formulierte und die Strategie für den Einsatz in Spanien und die Verbreitung des Sozialismus auf der ganzen Welt ausarbeitete. Hier wohnten geheime kommunistische Agenten, Geldkuriere, Agitatoren, Autoren und Ausbilder der Lenin-Schule. Es war damals einHotel, in dem man stolz darauf war, Teil einer kämpfenden Elite zu sein, die eine Sache vorbereitete und umzusetzen suchte, die bedeutsamer war als der einzelne Mensch.
Das Hotel aber, das Svend als einen heiteren und lebendigen Ort in Erinnerung hatte, an dem in vielen Sprachen diskutiert wurde und wo sie miteinander tranken, feierten und sich liebten, hatte sich in ein düsteres Mausoleum verwandelt, das von verschreckten Menschen bevölkert wurde, die wie Katzen herumschlichen. Und es gelang ihnen nicht, ihre Angst zu verbergen, auch wenn sie nicht darüber sprachen. Es war zu gefährlich oder zu unerträglich, und man tat besser so, als gäbe es die nächtlichen Besuche und die versiegelten Zimmer der Verräter und Volksfeinde nicht.
Dabei wurde Svend ständig damit konfrontiert, als er durch das Hotel streifte, um alte Kameraden aufzusuchen. An zu vielen Türen klebt ein schwarzes Siegel des NKWD mit dem Emblem der Geheimpolizei, das besagt, dass hier einmal ein Mensch gewohnt hat, Sowjetbürger und ausländischer Kamerad gleichermaßen, der mittlerweile im Gefängnis sitzt.
Svend nahm die große Stille in den leeren Fluren wahr. Angst ist lautlos, ging es ihm durch den Kopf. Dafür riecht diese unsichtbare Angst ekelerregend und widerlich. Es ist still, und trotzdem kommt es ihm so vor, als halle das Geräusch stummer Schreie in seinem Kopf wider. In der Gemeinschaftsküche war niemand. Es roch nicht mehr nach frisch gekochtem Essen, das nach Rezepten verschiedener Nationen und Kulturen zubereitet worden war. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, als er sich an einen Abend erinnerte, an dem er zusammen mit einer dänischen Frau ein köstliches Essen zubereitet hatte. Hühnchen im Schmortopf mit Soße und Kartoffeln und Gurkensalat. Sie hatten sogar eine Flasche Wein besorgt und ein deutsches Paar zu diesem Festmahl eingeladen.Mit den Menschen verschwinden auch die Wohlgerüche, dachte Svend.
Nicht ein einziges Paar Seidenstrümpfe hing mehr zum Trocknen auf der Leine im Badezimmer und rief fröhliche Gedanken und große Lust auf glatte Frauenbeine hervor. In dem großen Restaurant saßen nur wenige Leute, die das billige Essen aßen, das man den Kadern servierte, damit sie gestärkt in ihren unermüdlichen Kampf für die Gerechtigkeit ziehen konnten. Die Tische standen verloren in dem großen Raum herum, weil nur noch vereinzelte Kameraden übrig waren.
Die gesichtslosen Agenten des NKWD kommen nachts mit ihren Haftbefehlen und bringen den Festgenommenen zur Lubjanka oder ins Butyrka-Gefängnis, das an der Hauptstraße liegt, die in Richtung Norden aus der Stadt herausführt. Svend kennt das Gefängnis. Als er das erste Mal in Moskau war, hatte er es einmal besucht, weil er sehen wollte, wie die Revolution die antisowjetischen Verbrecher einsperrte. Das Gefängnis stammt aus dem Jahre 1879. Im Winter ist es dort eiskalt und im Sommer brütend heiß. Inzwischen sind zwanzigtausend Gefangene darin untergebracht, auch wenn es ursprünglich nur für einige Hundert gedacht war. Einst hausten dort die Verbrecher und die politischen Gegner des Zarenreichs. Heute sind es die guten Parteikameraden, die in den kleinen, düsteren Zellen eingesperrt sind. Wie ist das möglich? Warum frisst die Revolution ihre eigenen Kinder? Er begreift es einfach nicht.
Niemand protestiert, weil alle wissen, dass nichts wichtiger ist als Disziplin und Gehorsam, weil alle wissen, dass die Partei in ihrer Weisheit unfehlbar ist und das NKWD von tüchtigen und prinzipientreuen Ermittlern bevölkert wird, die es als ihre vornehmste Aufgabe ansehen, den Sozialismus zu verteidigen. Wenn sie Menschen festnehmen, die man eigentlich für gute und loyale Parteikameradengehalten hat, dann wird es dafür schon einen
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