Die Wahrheit stirbt zuletzt
ihnen ihren Durchschlag ohne allzu viele Korrekturen abstempelt. Denn ohne seinen Stempel darf das Telegramm nicht abgeschickt werden. Danach müssen sie zum Post- und Telegrafenamt oben auf der Gorki-Straße sausen. Dort sitzen junge Damen und warten darauf, die begnadete Prosa einzugeben, aber es gibt nur eine Telegrafenverbindung ins Ausland, und es heißt, immer schön der Reihe nach, mein Freund. Es kommt also nicht nur darauf an, der Erste zu sein, sondern man muss auch noch beliebt sein, daher werden die Damen von den dankbaren Reportern gerne mal mit Schokolade und Parfum beglückt, weil sie hoffen, dass sie es mithilfe von Geschenken und Komplimenten ganz nach vorne in der Warteschlange schaffen können. Und das natürlich immer im Dienste des Lesers, aber auch für Ruhm und Ehre, nach denen wir alle streben, nicht wahr? Die Zensoren gehen übrigens auch nicht hungrig nach Hause. Du undich können es dagegen ruhig angehen lassen und unsere Meisterwerke an unsere Zeitungen schicken, wenn das Rattenrennen längst vorbei ist.«
»Ich dachte, Trinkgeld ist in Stalins Reich nicht erlaubt«, hakt Magnus ein.
»Nenn es meinetwegen Trinkgeld. Aber Geld regiert überall auf der Welt, auch hier. Es geht nur darum, die richtigen Leute und den richtigen Preis zu kennen, dann kannst du dir alles kaufen. Und wie machst du es gleich mit der Sprache? Hast du einen Dolmetscher, der dir während des Prozesses hilft?«
Magnus nickt, dreht sich zu Svend um und stellt ihn Keenan vor, der ihm unbeholfen die Hand drückt. Svend spricht kein Englisch, aber da sie sich auf Russisch unterhalten können, sind sie schon bald in ein angeregtes leises Gespräch vertieft, dem Magnus nicht folgen kann. Sie setzen sich und reden weiter.
Magnus bleibt stehen und schaut sich um. Er kann Irina nirgendwo entdecken, aber vorne in der ersten Reihe sind noch einige Plätze frei. Die anderen Zuschauer sitzen ganz still da. Einige von ihnen schielen zu den Presseplätzen hinüber, aber sobald sie bemerken, dass Magnus zu ihnen hinübersieht, schauen sie erschreckt weg. Blickkontakt mit Fremden ist etwas, das man in Moskau möglichst vermeidet, hat er inzwischen gelernt.
Aber wo steckt Irina?
Er war sich sicher, dass sie beim Prozess gegen ihren Vater und ihren Bruder dabei sein würde, aber er kann sie nirgendwo entdecken, obwohl er den Blick immer wieder über die Reihen der Sowjetbürger schweifen lässt. Es handelt sich zweifelsohne um gezielt ausgewählte Zuschauer, sonst hätten sie sicher keinen Propusk für diesen Prozess bekommen. Es herrscht eine nervöse, erwartungsvoll aufgeheizte Stimmung. Die meisten der Zuschauer sind Männer aller Altersgruppen. Sie tragen dunkle Anzügemit Weste und Krawatte oder die üblichen khakifarbenen Uniformen, die bis oben hin zugeknöpft sind und fast den ganzen Hals bedecken. Ihr sowjetisches Erscheinungsbild soll sich in den Zeitungen und Wochenschauen der Kinos besonders gut ausnehmen. Zwei große Filmkameras stehen bereit, um das Ereignis festzuhalten. Auch die Kameramänner und ihre Assistenten warten geduldig. Selbst die kleinsten Details scheinen Teil der Inszenierung zu sein, denkt Magnus.
Plötzlich stockt ihm beinahe der Atem, als er Irina durch eine Tür hereinkommen sieht, die vorne in die linke Wand eingelassen ist. Sie wird von einer großen schlanken Frau begleitet, die ihre Zivilkleidung wie eine Uniform trägt, und von einem stämmigen Mann in einem blauen Anzug und einem weißen Hemd mit straff gebundener Krawatte. Er ist nicht nur stämmig, sondern in jeder Hinsicht stattlich wie ein Gewichtheber oder Ringer oder wie einer der starken Männer im Zirkus. Sein Bizeps und seine Oberschenkel sind so übermäßig ausgebildet, dass er nur sehr breitbeinig und mit abgespreizten Armen gehen kann. Sein Sakko ist an den Schultern bis zum Äußersten gespannt, und sein umfänglicher Bauch droht die Anzugjacke mit den drei Knöpfen zu sprengen. Er hat ein rundes Gesicht und eine Glatze.
Er sieht mongolisch aus, findet Magnus. Sein Schnurrbart ist buschig und groß, auch darin erinnert er an einen starken Mann im Zirkus.
Ohne ihre forsche Ausstrahlung, an die Magnus sich erinnert, wirkt Irina nur noch zerbrechlich klein und zart. Sie hat einen albernen runden Hut leicht schräg auf ihrem Kopf sitzen, was keck aussehen soll, aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, wie glanzlos ihr helles Haar ist, in dem sich kaum noch eine Locke kringelt. Trotz ihres züchtigen Rocks samt passender
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