Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
Jugendlicher hat er mit seiner Familie in Russland gelebt, die dann aber während des Bürgerkrieges vor dem Roten Heer fliehen musste.
    Keenan ist der Erste, der das Familienunternehmen verlassen hat, um Journalist zu werden, aber sein älterer Bruder importiert noch immer Zobelpelze vom inzwischen staatlichen sowjetischen Handelsministerium. Dollar sind Dollar, wie er zu sagen pflegt. Auch wenn die Familie nicht mehr im Land leben kann und will, hat sie keine Probleme damit, mit den Bolschewiken Handel zu treiben. Das Geschäft mit dem Kaviar verläuft auch wieder in geregelten Bahnen, die das schwarze Gold direkt in einige der besten Restaurants New Yorks, Bostons und Chicagos exportieren. Es mag schon sein, dass sich die Weltwirtschaft in einer Krise befindet, aber es gibt nach wie vor viele sehr Reiche, die ihre Frauen in russische Pelze hüllen, um sie anschließend in einem vornehmen Restaurant mit den delikaten Eiern des Störs zu verwöhnen.
    Die Brodersen-Familie aus Dänemark ist Keenan natürlich ein Begriff, da sie ebenfalls im internationalen Pelzgeschäft tätig war und außerdem Anteile an der Großen Nordischen Telegrafen-Gesellschaft besaß, die das Telegrafenkabel quer durch Russland verlegte. Das kleine Dänemark erlebte damals goldene Zeiten im großen Russland, weil es dem Zaren eine Ehefrau geliefert hatte. Magnus kommt zwar aus Dänemark, aber Keenan weiß sehr viel mehr über die dänisch-russischen Beziehungen als er selbst.
    Er weiß zu berichten, dass der Großvater und der Onkel von Redakteur Brodersen vor 1917 häufig am Zarenhof zu Gast waren. Magnus war sehr verwundert gewesen, dass sie gemeinsame Bekannte in Dänemark hatten.
    »Du wirst noch merken, Magnus«, hatte Keenan gesagt, »wie klein die russische Welt ist. Wir, die wir Russophileund keine Kommunisten sind, sind eine kleine, handverlesene Schar. Brodersen ist einer von uns – und seine Familie ist ein Teil der Geschichte aus jener Zeit, bevor die Welt aus dem Lot geriet. Ich habe übrigens gerade heute ein Telegramm von ihm bekommen. Er bittet mich darin, seinem Reporter schöne Grüße auszurichten. Er nennt dich einen talentierten jungen Mann und bittet mich, dir behilflich zu sein, wenn ich kann. In jeder Hinsicht.«
    Und dann hatte er Magnus mit einem ironischen Blick angesehen, während er zufrieden seine kubanische Zigarre paffte.
    Daran muss Magnus denken, während er sich umsieht. Der Saal, in dem sie sich befinden, ist ein stuckverziertes Prachtstück mit vier dorischen Säulen an jeder Seite. Zwischen den Säulen hängen große Kronleuchter. Die Wände sind sehr hoch und offensichtlich gerade erst in einem eleganten Hellblau gestrichen worden. Etwa dreihundert Menschen haben auf den unbequemen Stühlen Platz genommen, die man wie für eine Theateraufführung mit einem Gang in der Mitte aufgestellt hat.
    An der Stirnseite des Saals hat man vor den vier schlanken Säulen auf einem Podest ein langes Richterpult aufgebaut, darauf eine Lenin-Büste. Hinter dem Pult steht eine Reihe leerer Stühle, die auf die Richter warten. Hinter zwei langen dunklen Tischen quer zum Richterpult stehen ebenfalls Stühle. Auf den beiden Tischen mit dunkelroten Tischdecken stehen Lampen und Mikrofone. Für die Angeklagten und ihre Verteidiger steht ein kleiner Tisch bereit.
    »Normalerweise finden die Gerichtsverhandlungen im Oktobersaal statt«, sagt Keenan mit seinem breiten amerikanischen Akzent. »Diesmal haben sie den Festsaal gewählt, damit die vielen eigens einberufenen sowjetischen Bürger und unsere Journalistenschar Platz finden. Sieh dirdoch nur Mr Fleming und die anderen armen Journalisten von den Nachrichtenbüros an.«
    Magnus, Svend und Paul Keenan sind zusammen mit den anderen Presseleuten in zwei Stuhlreihen auf der rechten Saalseite platziert worden. Viele von ihnen haben allem Anschein nach einen Dolmetscher neben sich sitzen. Auf der anderen Seite des Mittelganges sitzen die sowjetischen Journalisten, die über den Prozess berichten. Sie sitzen mit ihren Blöcken und Bleistiften in der Hand da.
    »Warum arm?«
    Keenan sieht ihn erstaunt an. »Du bist doch Journalist, oder? Dann weißt du doch, dass die Jungs von den Nachrichtenbüros sich darum prügeln, der Schnellste zu sein. Und das ist nicht leicht. Sie müssen ihr Telegramm erst in zweifacher Ausfertigung beim Zensor abliefern, der hier im Gebäude sein Büro hat, und hoffen, dass er von der freundlichen Sorte ist und heute auch noch seinen netten Tag hat und

Weitere Kostenlose Bücher