Die Wahrheit stirbt zuletzt
und lauschen auf die Fahrstühle. Auf welcher Etage hält er diesmal an? An welcher Wohnungstür klopfen sie heute Nacht? Sie sind erleichtert, wenn sie hören, wie die Schritte im Hausflur an ihrer Wohnungstür vorübergehen und vor der des Nachbarn stehen bleiben. Jeder Mensch kämpft hier für sich allein. Das Unglück des Nächsten bedeutet vielleicht das eigene kurze Glück. Denn die Krähe fliegt jede Nacht, und keiner weiß, wo sie landet.
Die Verhafteten dürfen nicht miteinander sprechen. Männer in langen Mänteln bringen die Festgenommenen in den Hof der Lubjanka, in ihre Gefängniszelle, wo sie im Verhörraum des Kellers Ungewissheit und Folter erwartet und schließlich der letzte Gang in den sicheren Tod.
So hatten es ihm die Männer am vergangenen Abend in der Bar beschrieben, und es war auf einmal kalt geworden, so als dränge der Winter durch die dicken Gardinen herein, die man vor die Fenster gezogen hatte. Magnus wünschte, er könnte mit Svend sprechen, um dessen Wohlergehen er sich plötzlich Sorgen macht, aber als er zu später Stunde in Richtung Bett gewankt war, hatte Svends Schlüssel noch am Schlüsselbrett gehangen.
Die Woronka mit den zwei dunklen Gestalten im Inneren biegt um eine Ecke und verschwindet im Schein der wenigen Straßenlampen, die ein fahles Licht auf den Asphalt und die verschlossene dunkle Stadt werfen.
Es schaudert ihn, und er legt sich wieder unter seine Decke, wo er am ganzen Körper zu zittern beginnt. Er zittert nicht vor Kälte, denn es ist warm im Zimmer. Er bebt vor Angst. Er weiß nicht, warum, aber er spürt, dass das, was ihn erwartet, unangenehm und schrecklich werden wird. Er versucht, die schwarzen Gedanken beiseitezuschieben, indem er an Irina und ihren wundervollen Körper denkt. Aber es gelingt ihm nicht, denn die zerstörerischen Gedanken verdrängen die schönen Bilder und ängstigen ihn beinahe zu Tode.
28
S vend Poulsen kehrt erst am nächsten Vormittag ins Hotel zurück, wo er sich im Restaurant zu Magnus an den Tisch setzt und sich aus einer Kanne schwarzen Tee in ein hohes Glas mit einem silberfarbenen Henkel einschenkt. Er gießt kochendes Wasser aus dem Samowar dazu und bestellt beim Kellner Brot, Wurst und ein gekochtes Ei. Dann gibt er in russischer Manier einen Löffel Marmelade in den dunkelbraunen Tee und rührt mit einem grauen Blechlöffel geistesabwesend darin um.
Er wirkt mitgenommen. Sein Gesicht sieht verknittert aus, als hätte er kaum geschlafen, und er riecht nach Wodka. Magnus geht es auch nicht besonders gut. Er hat einen trockenen Mund, es pocht in seinem Schädel, und er spürt, dass sein bleierner Körper darum kämpft, den restlichen Alkohol loszuwerden. Er hat etwas Brot gegessen und starken Tee und Unmengen von Wasser getrunken, und es geht ihm schon ein wenig besser. Er hofft, die Schlacht gegen den Kopfschmerz und den heftigen Durst gewinnen zu können.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, fragt er. »Du siehst grauenhaft aus.«
»Überall und nirgends, aber die meiste Zeit war ich mit einigen alten Parteikameraden zusammen.«
»Wie ich sehen und riechen kann, habt ihr euer Wiedersehen ordentlich gefeiert.«
»Es gibt nichts zu feiern, Magnus. Nicht das Geringste.«
Magnus mustert seinen Freund an und sieht, dass dieser nicht nur unter einem Kater, sondern auch unter seelischenQualen leidet. Er wirkt wie jemand, der jegliche Orientierung verloren hat, weil ihm sein politischer Kompass abhandengekommen ist. Leise und erschüttert berichtet er von seinen Begegnungen.
Svend war die Gorki-Straße zum Hotel Lux hinaufgegangen. Es war ihm gelungen, an dem Wächter vorbeizuschlüpfen, der dort in der obligatorischen Uniform des Parteiwächters, dem blauen Anzug und dem Schlips unter dem dicken schwarzen Mantel, immer vor der Tür steht. Eine alte Freundin, die Svend draußen auf der Straße getroffen hatte, hatte ihn mit hineingenommen. Sie war blass und nervös gewesen und zunächst nicht sonderlich begeistert davon, ihn hineinzuschleusen, aber Verliebtheit und Erotik knüpfen starke Bande, sodass es ihm schließlich gelungen war, sie zu überreden. Dabei konnte er seine Verwundung als eine Art Tapferkeitsmedaille ins Feld führen. Er hatte seinen Arm für die Sache geopfert. Das musste sie doch einsehen und akzeptieren – ja, vielleicht sogar bewundern –, und möglicherweise erinnerte sie sich ja auch an wunderbare gemeinsame Zeiten? Ja, das tat sie, wie er ihr ansehen konnte, als sie sehr kleidsam errötete und
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