Die Wahrheit stirbt zuletzt
jüngere Version seines Vaters, hat die gleiche gedrungene Statur. Aber Magnus erkennt auch die Ähnlichkeit zwischen ihm und Irina. Zwar hat er dunklere Haare, dafür aber dieselben slawischen Wangenknochen, die so markant hervortreten. Er trägt ebenfalls einen braunen Anzug, und auch seine Augen sind glanzlos, sein Blick resigniert.
Magnus kann kaum ertragen, zu sehen, wie Irina mit den Tränen kämpft. Ihre Augen sind weit aufgerissen vor Entsetzen. Vermutlich sieht sie ihre Familie das erste Mal seit Monaten wieder. Erst war sie in Spanien, und dann hat man ihr nicht erlaubt, sie im Gefängnis zu besuchen, hat Keenan ihm erzählt. Wenn er sie doch nur in den Arm nehmen könnte. Wenn er sie doch nur an sich ziehen und trösten und ihr sagen könnte, dass er sie liebe und von hier wegbringen werde.
Alle erheben sich geräuschvoll von ihren Stühlen, als der Richter eintritt und sich hinter das Richterpult setzt. Mit ihm zusammen betreten vier Männer in Uniform den Saal. Es sind die braunen Uniformen mit dem Lederriemen über der Brust und dem hochgeschlossenen Kragen,die hier alle zu tragen scheinen. Am Kragen sind die roten NKWD-Insignien zu erkennen. Sie setzen sich jeweils zu zweit rechts und links neben den Obersten Richter, der einen kleinen Stapel Papiere vor sich auf den Tisch legt.
Als sich alle wieder hingesetzt haben, wird es still im Saal.
Der Richter, ein Mann mittleren Alters, hat eine hohe Stirn und eine Glatze und trägt einen dunklen Umhang. Er setzt sich eine schmale Brille auf die Nase, nimmt das erste Blatt Papier auf und beginnt, mit monotoner Stimme die Prozessordnung und die Bedingungen der sowjetischen Gerichtsbarkeit zu verlesen, wie Svend leise für Magnus übersetzt. Dann erteilt er dem Staatsanwalt das Wort, einem alerten, rundlichen Mann in einem dunkelgrauen Anzug mit Weste und Krawatte. Er trägt eine runde Brille und hat das Haar in der Mitte gescheitelt. Seine Stimme ist hell und so durchdringend, dass das Mikrofon beinahe überflüssig ist.
Svend stenografiert mit und übersetzt, während der Staatsanwalt die Anklage verliest. Beide Männer werden nach Artikel 58 angeklagt. Der frühere Oberst des Volkskommissariats für Interne Angelegenheiten, des NKWD, Nikolai Sergejewitsch Schapatowo, werde angeklagt, mit dem Ziel konspiriert zu haben, eine trotzkistische Zelle innerhalb der Reihen der Tschekisten zu bilden. Er sei vom imperialistischen britischen Geheimdienst angeworben worden, als er bei der sowjetischen Gesandtschaft in London angestellt war. Sein Plan habe vorgesehen, zunächst Volkskommissar Jeschow zu stürzen, von dem jeder wisse, dass er ein unermüdlicher und selbstloser Vorkämpfer der Revolution ist. Und wenn der Verräter sich erst einmal die Macht im NKWD, dem revolutionären Nachfolger der Tscheka angeeignet habe, wolle er Kamerad Stalin ermorden, das größte Genie der Menschheit, unseren Vater und Lehrmeister, den großen Führer des sowjetischenVolkes. So sehe der Plan des Schurken aus. Nur durch die außerordentliche Wachsamkeit aufseiten des NKWD habe dieses Komplott verhindert werden können.
Der Staatsanwalt blickt in die Menge und wartet, bis der Beifall sich gelegt hat. Das heftige Klatschen überrascht Magnus, aber auf Svend und Keenan scheint es keinen Eindruck zu machen.
»Offizier Anatoli Nikolajewitsch Schapatowo ist der Sohn dieses Schurken, für den das Volk alles gegeben und der persönlich Seite an Seite mit unserem großen Führer, Kamerad Stalin, die Geschicke unseres Staates gelenkt hat, während er die ganze Zeit die brennende Fackel des Verrats in seinem Herzen verborgen hat, die von dem gemeinen Schuft Trotzki entflammt worden war und von einem unstillbaren Hass auf das sowjetische Volk genährt wurde.«
Wütende Rufe ertönen, und geballte Fäuste werden drohend in die Luft gestreckt. Über das Gesicht des Staatsanwalts huscht wieder ein listiges kleines Lächeln, er blickt von seinen Papieren auf und wartet geduldig, bis die Unmutsäußerungen der Zuhörer verebbt sind.
»Dieser ehemalige Offizier unserer glorreichen Armee«, fährt er dann fort, »ist der Anführer einer Verschwörung in seiner Kompanie, seinem Regiment und seiner Division gewesen, die darauf abzielte, unser sowjetisches Gesellschaftsmodell gewaltsam umzustürzen. Genährt vom Geier Trotzki, aus dessen Mund blutige Galle trieft, hat der Offizier gemeinsam mit seinem Vater das Ziel verfolgt, unsere prächtige, junge sozialistische Blüte durch Sabotage mitsamt
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